Dienstmädchen-Emigration: Die Flucht jüdischer Frauen aus Österreich und Deutschland nach England (1938/1939)

Rund 20.000 jüdische Frauen und Mädchen aus Österreich und Deutschland konnten sich 1938/39 mit Hilfe eines ‚domestic permit’ nach Großbritannien flüchten. Die langjährige ORF-Redakteurin Traude Bollauf untersuchte in ihrer Dissertation die Basis, auf der diese Fluchtbewegung entstehen konnte, den zeitlichen und organisatorischen Ablauf sowie die Erfahrungen, die diese Frauen in britischen Haushalten machten.

 

Seit Ende des Ersten Weltkrieges gab es in Großbritannien einen Mangel an Hauspersonal, dessen Ausmaß zu politischem Handeln zwang. Drei Gründe waren an dieser extremen Verknappung schuld: Zum einen hatten Frauen während des Krieges die Arbeitsplätze der fehlenden Männer ausfüllen müssen und dies als Verbesserung ihrer Lebenssituation erlebt: höhere Löhne, mehr persönliche Freiheit und eine neue Art von Kameradschaft mit Arbeitskolleginnen. Kein Wunder, dass sie diese Möglichkeiten nach Beendigung des Krieges nicht aufgeben und daher beispielsweise nicht ins ‚domestic service’ zurückgehen wollten.

In der Zwischenkriegszeit entstand aber sogar vermehrter Bedarf an Hauspersonal: Die Zahl der Haushalte wuchs; die Ansprüche an die Haushaltsführung stiegen; die Beschäftigung einer ‚maid’ verhalf der Hausfrau zu Bequemlichkeit und Sozialprestige.


Die dritte Ursache für den Mangel waren die extrem schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen des Hauspersonals in Großbritannien, anders als beispielsweise in Deutschland oder gar Österreich, wo es bereits seit dem Jahre 1920 eine gesetzliche Regelung dieser Dienstverhältnisse gab. Die Autorin schreibt dazu: „... allen Bestrebungen von Women’s Committees zum Trotz, die aus der Arbeit in fremden Haushalten einen Beruf mit geregelter Ausbildung und ebensolchen Arbeitsbedingungen machen wollten, waren die Dienstgeberinnen kaum bereit, ihr traditionelles Verhalten gegenüber ihren Bediensteten zu überdenken und zu ändern.“ (S. 51) Daher sahen sie sich im Ausland nach Dienstboten um, die diese Jobs aus Not oder Abenteuerlust annahmen.


Das war eine Chance für Frauen und Mädchen aus Deutschland und Österreich. Seit Ende des 1. Weltkrieges war ‚Auswandern’ für beide Geschlechter eine ernsthafte Alternative, um der verbreiteten Arbeitslosigkeit zu entgehen. Um diesen Strom zu lenken, wurde im Frühjahr 1919 das (deutsche) Reichsamt zur Pflege der Auswanderung, Einwanderung und Rückwanderung gegründet; im Oktober desselben Jahres folgte Österreich mit der Einrichtung einer ‚Deutschösterreichischen Auskunftsstelle für Auswanderer“ und kurz darauf dem ‚Wanderungsamt’. Ab Anfang der 1930er-Jahre war die Vermittlung österreichischer Hausgehilfinnen nach England bereits einer der Arbeitsschwerpunkte des Amtes; daneben war auch eine Reihe privater Vermittlungsbüros und Vereine tätig. Zum Zeitpunkt des ‚Anschlusses’ arbeiteten etwa 9000 österreichische Hausgehilfinnen in Großbritannien. Wenige von ihnen waren jüdisch; jüdische Mädchen wollten lieber Angestellte sein und waren an hauswirtschaftlichen Berufen wenig interessiert. Als ab 1935 so genannte ‚Arierinnen’ unter 45 Jahren nicht mehr in jüdischen Haushalten arbeiten durften, wurden vermehrt jüdische Hauswirtschaftsschulen gegründet und ihr Besuch propagiert.


Ab Ende 1938 bemühte sich das Deutsche Reich, die Arbeitsmigration von Hauspersonal zu stoppen und die im Ausland Tätigen zurück zu beordern – auf eigene Kosten. Grund dafür war einerseits der Arbeitskräftebedarf im eigenen Land, andererseits die Befürchtung, ‚arische’ Mädchen müssten in jüdischen oder sonstwie moralisch verkommenen ausländischen Haushalten arbeiten.

Die Reaktion auf diese veränderte Situation war länderweise unterschiedlich: Niederländische Frauenorganisationen bemühten sich, „anstelle der ‚heimgeschafften’ ‚arischen’ Dienstmädchen jüdische Flüchtlinge als Haushaltshilfen zu bekommen, die Regierung in Den Haag stand der Aufnahme von Flüchtlingen (aber) grundsätzlich negativ gegenüber.“ (S. 104)


Auch die Regierung Großbritanniens war zunächst zögerlich, doch gelang es schließlich einem bereits 1938 gegründeten Netzwerk von Flüchtlingshilfeorganisationen „rund 20.000 meist jüdische Frauen und Mädchen mithilfe des domestic permit zur Flucht aus dem nationalsozialistischen Machtbereich zu verhelfen.“ (S 107) Die meisten Vermittlungen erfolgten über private Kontakte: „Wer Verwandte oder Freunde in Großbritannien hatte, hatte wesentlich bessere Aussichten einen Hausgehilfinnen-Job und damit Zuflucht zu finden als Menschen ohne solche Kontakte.“ (S. 157) So bekam beispielsweise Ella Courts, 1908 als Ella Mayer in Ober-Ingelsheim am Rhein geboren und seit 1933 in Großbritannien lebend, ab Anfang 1939 „nicht weniger als zwölf Briefe von Verwandten und Bekannten aus Deutschland, die sie – nach längeren Einleitungsfloskeln und Entschuldigungen, weil man sich so lange nicht gemeldet habe – alle um Unterstützung für domestic permits oder um Übernahme von Garantien baten.“ (S. 156)


Daneben waren auch Stellungsvermittlungsagenturen tätig. Wesentliche Hilfe leisteten das Hausgehilfenreferat der Auswanderungsstelle, die von der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien betrieben wurde, bzw. die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Jüdische Organisationen versuchten nicht nur, konkrete Arbeitsstellen zu vermitteln, sondern verbesserten auch die Chancen der Arbeitssuchenden durch „Haushaltskurse mit spezieller Betonung des domestic service sowie Sprachkurse für Englisch.“ (S. 158) Tatsächlich waren die Hauswirtschaftskenntnisse vieler Flüchtlinge eingeschränkt, die einer sozialen Schicht entstammten, die ihrerseits Hauspersonal beschäftigte. Einige kamen sogar aus akademischen Ausbildungen, aber der Job eines Dienstmädchens bot ihnen meist die einzige Möglichkeit zur Flucht. Ab Anfang 1939 musste daher eine entsprechende Eignungsprüfung abgelegt werden.

In seltenen Glücksfällen gab es auch Stellen für Männer, etwa wenn im selben Haushalt ein Gärtner/Chauffeur gesucht wurde. Ebenso schwierig wie die gemeinsame Emigration mit dem Ehemann war auch die Mitnahme eines Kindes, „denn nicht alle DienstgeberInnen akzeptierten, dass gemeinsam mit ihrem refugee domestic servant auch ein Kind in den Haushalt kam.“ (S. 163) Immerhin: 743 Kinder konnten doch auf diesem Weg nach Großbritannien kommen. Die Mitnahme der alten Eltern war hingegen fast unmöglich, weil der Wochenlohn der Hausgehilfinnen für die geforderte Sicherstellung nicht ausreichte.


Nach der gründlichen und mit viel Quellenmaterial untermauerten Darlegung der politischen Ereignisse, historischen Fakten und organisatorischen Strukturen der Dienstmädchenmigration geht die Autorin ausführlich auf das Leben der Flüchtlinge in Großbritannien ein: „Es war keine Begegnung auf gleicher Ebene. Die Bekanntschaft mit dem British Way of Life fand für die Frauen in einer Situation extrem emotionaler Belastung statt. (...) Als domestic servants waren sie (...) im Land ihrer Zuflucht eingebunden in ein streng hierarchisches System, das ihnen wenig persönlichen Spielraum ließ.“ (S. 202)

 

Auf der einen Seite erlebten sie große Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, auf der anderen Seite waren „die jüdischen Flüchtlingsfrauen aus Kontinentaleuropa, die sich anschickten als domestic servants den Dienstbotenmangel in Großbritannien zu beheben, nicht allen willkommen: Antisemitismus hatte auch im United Kingdom seine Tradition.“ (S. 166) Um den Neuankömmlingen die Anpassung zu erleichtern, aber auch um die allgemeine Stimmung gegenüber dem Flüchtlingsstrom nicht zu verschlechtern, gaben jüdische Hilfsorganisationen und staatliche Stellen Broschüren mit Verhaltensregeln aus: Die Mädchen und Frauen sollten beispielsweise in der Öffentlichkeit nicht deutsch sprechen und keine deutschen Zeitungen lesen, sollten sich unauffällig kleiden und verhalten und vor allem: niemals laut sein. Auch die Arbeitgeber bekamen ‚Winke’, etwa bezüglich des Mindestlohnes oder dem Umstand, dass der Wert zerbrochener Gegenstände nicht vom Lohn abgezogen werden durfte. Die Autorin zitiert aus zahlreichen Erlebnisberichten, wie schwierig und bedrückend viele Flüchtlinge ihr neues Leben im fremden Land empfanden. So erzählt etwa Ilse Tysh, wie sie sich in ihrem „umgestülpten Leben“ zurechtfand: „Vielleicht dachte ich manchmal, hätte mich der Standeswechsel von der Unternehmertochter, die selbst stets von Hauspersonal umgeben war, gedemütigt, wenn mich mein Vater nicht von Anfang an zur Bescheidenheit erzogen hätte. ‚Ihr müsst auch für schlechte Zeiten gerüstet sein’, sagte er immer. ‚In schlechten Zeiten gehen verwöhnte Kinder unter, glaubt mir.’“ (S. 217)


Abgeschlossen wird das Buch mit Memoiren, Biografien sowie siebzehn lebensgeschichtlichen Interviews, die die Autorin mit ehemaligen domestic servants – oder deren Nachkommen – geführt hat. Ihre Schicksale sind in die politischen Entwicklungen der späten 1930er Jahre und in die Zeit des Zweiten Weltkriegs eingebettet.

Das vorliegende Werk stellt die überarbeitete Dissertation von Traude Bollauf dar. Sie erhielt dafür 2010 eine Anerkennung beim Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch. Wien-Berlin: Lit Verlag 2011, 2. Aufl. (Wiener Studien zur Zeitgeschichte Bd.3), 354 S., 12 Abb., 6 Tab., ISBN: 9783643501967, € 35,90


Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2013, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.