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Susanne Krejsa MacManus' Fingerübungen

1/2016: Zusammengefaltet

Ich hatte definitiv nicht erwartet, dass ich mich mit einer Gabel solidarisieren würde.

 

Also eigentlich nur mit dieser einen.

 

Nein, nicht wegen der traurigen Qualität des Imbisses. Die Zeiten sind schon lange vorbei, in denen das Essen im Flugzeug zum Vergnügen der Reise gehörte.

 

Sondern wegen ihrer zwangsweisen Zusammenfaltung, Quetschung, unbequemen Haltung.

Ich hatte nicht erwartet, dass ich mit einer Gabel Mitleid haben würde.

 

Wenn auch nur mit dieser bestimmten.

Sie kam am Beginn einer mehrwöchigen Reise in unseren Besitz: Wien - London - Madeira - Wien.

London war wie immer zu dieser Zeit: Nass und kalt und windig.

Es war nicht das Wetter, das uns hingezogen hat.

Quelle: www.abendblatt.de

Nach Madeira allerdings schon. 21 Grad Celsius und blauer Himmel lautete das Versprechen.

 

Als es endlich eingelöst wurde, glichen wir schon unserer Gabel.

Zusammengefaltet, gequetscht, unbequem eingezwängt von London nach Madeira.

Dort allerdings keine Entfaltung, weil Sturm. Also weiter von Madeira nach Teneriffa. Auch dort keine Entfaltung, weil … keine Ahnung. Weitere drei Stunden lang zusammengefaltet, gequetscht, unbequem eingezwängt. Immer noch keine Entfaltung in Sicht, sondern in ebenderselben Zwangsposition zurück nach Gatwick.


Ich hatte nicht erwartet, dass ich mich in eine Gabel hineinversetzen könnte.
Ganz sicher nicht in diese.

Am nächsten Tag alles wieder von vorn: Schmerzhaft zusammengefaltet, gequetscht, unbequem eingezwängt.

Man gewöhnt sich nicht daran.

 

27 Stunden später als gedacht waren wir dann dort.

 

Mittlerweile kann ich mich in die Psyche einer Faltgabel einfühlen.

http://nagonthelake.blogspot.co.at

 

Oder in zusammengefaltete Papierflieger.

Muss ja auch schrecklich sein für so ein Blatt Papier.

 

Geknufft und gekniffen werden, gedrückt und verdrückt, verbogen, gefalzt und gekantet. Und das für immer! (Während sich mein Körper wieder auf seine heile Rundlichkeit besonnen hat.)

www.iamhutton.com/blog/2015/10/18/paper-airplanes

Trotzdem sind wir natürlich froh, dass Papierflieger in der Form bleiben (müssen), in die wir sie nun einmal gezwängt haben.

 

Besonders froh war der Anthropologe und Avantgarde-Künstler Harry Everett Smith (1923-1991). Zwischen 1961 und 1983 klaubte er Papierflieger von New Yorker Strassen, notierte Ort, Zeit und sonstige Umstände, und bewahrte sie auf. 251 davon landeten auf bizarren Umwegen in den Anthology Film Archives in New York City. Der Rest seiner umfangreichen Sammlung ist gottweißwo geblieben.

www.iamhutton.com/blog

Was Smith daran so faszinierte, waren die unterschiedlichen Falttechnologien in diesem langen Zeitraum. Papierflieger ist nicht gleich Papierflieger. Jeder Schöpfer meint, dass sein Werk besser fliegen wird als andere.

 

Ebenso interessierte er sich für  die verwendeten Materialien, die oft Zeitgeschichte transportieren oder persönliche Notizen enthalten: Zeitungsblätter, Rechnungen, Prospekte ... was man halt so zur Hand hat, wenn einen der Drang überkommt, ein Flugzeug zu falten.

www.iamhutton.com/blog

Zurück zu unserem Flug: Wie die 27-stündige Anreise nach Madeira finanziell ausgehen wird, ist noch offen. Alles hängt am Begriff 'Höhere Gewalt'. Wie lange dauert sie? Nur für die Dauer des Sturmes? Oder läßt sie sich so lange ausdehnen, bis die Fluggesellschaft gnädig irgendwann ein anderes Flugzeug und einen ausgeschlafenen Piloten vorbeischickt?


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