Sophie Ledebur: Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne - Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien

Seit 1907 besteht vor den Toren Wien eine psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt, dort, wo zuvor die Ottakringer Steinbrüche und Steinlager (genannt ‚Steinhöfe‘) gewesen waren. Das vorliegende Buch untersucht Zielsetzung und Gründungsgeschichte der ‚modernen‘ Anstalt ‚Am Steinhof’, die Versorgungslage psychisch Kranker im 19. Jahrhundert und die Entwicklung bis in die 1920er-Jahre.

 

Es stellt die überarbeitete Dissertation der Autorin dar, die nach ihrem Geschichtsstudium Fellow am Doktoratskolleg ‚Naturwissenschaften im historischen Kontext‘ war und seit Februar 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt 'Kulturen des Wahnsinns' der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist.

 

Bauherr der Anstalt 'Am Steinhof' war das Land Niederösterreich als Grundbesitzer, Architekt Otto Koloman Wagner (1841-1918). Die Anstalt wurde in Pavillonbauweise errichtet und sollte drei unterschiedliche Abteilungen aufnehmen, nämlich eine Heilanstalt mit 800, eine Pflegeanstalt mit 900 und ein Sanatorium mit 300 Betten. Zu Wagners Plänen gab es die üblichen Meinungsverschiedenheiten und Änderungswünsche, aus Zeitnot erteilte der Niederösterreichische Landtag aber schließlich seine Zustimmung.

 

Anders war es mit der Planung der Anstaltskirche: Der secessionistische Stil - vor allem im Inneren - erhitzte die Gemüter. Verunglimpfungen wie 'Idiotenstil', 'Grabmahl eines indischen Maharadschas' und 'Goldenes Krauthapl' wurden von den Medien gerne verbreitet. Schließlich wurde sogar die Bischofskonferenz bemüht. Da sie jedoch die Pläne „als der katholischen Auffassung nicht widersprechend“ beurteilte, durfte das gebaut werden, was heute zu den bedeutendsten Bauwerken der österreichischen Jugendstil-Moderne zählt.

 

Die Grundsteinlegung zum Bau der Anstalt erfolgte Ende 1904 in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph, die Eröffnung drei Jahre später unter der Patronage des Thronfolgers Franz Ferdinand. Für die Unterbringung der Kranken waren 36 Pavillons vorgesehen, weitere dienten der Administration und als Wohnraum für die Angestellten. Bereits während der Planungsphase wurde der Gesamtbelegraum auf 2200 Kranke erweitert. Die Pavillons der Heilanstalt waren in den beiden vorderen Reihen der Anlage symmetrisch angeordnet und wie auch alle anderen Abteilungen jeweils für Männer und Frauen getrennt. In den beiden höher gelegenen Reihen befand sich die Pflegeanstalt. Zu dieser gehörten auch zwei Pavillons für die sogenannten 'Geistessiechen', also die einer intensiven Pflege bedürftigen Kranken. Weiters gab es jeweils einen Pavillon für Infektionskranke und für Tuberkulöse. Der Transport von Material und Speisen erfolgte mit einer elektrisch betriebenen Kleinbahn. (S.69) 

 

'Am Steinhof' gab es keine 'Gummizellen' mehr, also gepolsterte Räume, in denen Patienten isoliert wurden, sich aber nicht selbst beschädigen konnten. „Noch einige Jahrzehnte zuvor war als Richtlinie für die Gestaltung neuer Anstalten der Einbau von einer ‚Tob-Zelle‘ pro zehn Patienten empfohlen worden. Diese galten, so die zeitgenössische Sichtweise, besonders für weibliche Patienten wegen deren „geringeren Verträglichkeit untereinander, größeren Eitelkeit, gesteigerten Empfindsamkeit, des nicht zu leugnenden üblen Einflusses der Menses und der sonstigen Störungen der weiblichen Geschlechtsfunktionen als unverzichtbar.“ (S.87)

 

Zuvor hatte es ab 1848 die Anstalt 'Am Brünnlfeld' gegeben, davor die als 'Narrenturm' oder 'Guglhupf' bezeichnete 'k.k. Irrenheilanstalt', eine der ersten Institutionen Europas, 1784 eigens zum Zweck der Versorgung von Geisteskranken geplant und gebaut. Noch früher wurden psychisch Kranke teilweise in einem Gefängnis am Salzgries und im Spanischen Spital am Rennweg, im Bürgerspital zu St. Marx oder auch in Ordensspitälern untergebracht. (S.29) „Der Beginn der medizinischen Betreuung psychisch Kranker wird allgemein auf 1790, mit der Aufhebung aller nicht gesetzlich legitimierten Freiheitsbeschränkungen und der Auflösung der großen französischen Internierungsanstalten datiert, die die Gründung spezieller Einrichtungen für die - nach zeitgenössischer Begrifflichkeit - 'Irrenbetreuung' - nach sich zog. (S.41)

 

Die Anstalt 'Am Steinhof' schloss also konzeptuell an eine lange Tradition spezifischer Versorgung für psychisch Kranke an, doch mit einem wesentlichen Unterschied: „Die bislang innerhalb einer Institution vereinten Aufgabenbereiche der Psychiatrie, wie Forschung, Lehre und stationäre Betreuung, wurden mit dem Neubau … geschieden. … Die Anstaltspsychiatrie geriet in der Folge zu einem von der klinischen Forschung gänzlich entfernten Ort des Agierens und bildete einen eigenen … Handlungs- und Wissensraum.“ (S.12)

 

Ledebur widmet sich in ihrer Untersuchung der Behandlung der Insassen: Mit 'Behandlung' ist hier weniger die spezifisch medizinische Behandlung gemeint als die vielmehr der Umgang von Medizin und Gesellschaft mit psychisch Kranken, die Einstellung ihnen gegenüber, der philosophische, rechtliche, psychologische, soziale und kulturelle Zugang. Stichworte dazu sind etwa 'Ausgrenzung', 'Einsperrung', 'Zwangsmassnahmen', 'Ruhigstellung', 'Gefährlichkeit', 'Erblichkeit'.

 

Ein möglicher Weg sind die Krankenakten. Diese spiegeln die „wissenschaftlichen Auffassungen der Zeit, in der sie verfasst wurden, und auch … besondere, lokal gebundene Lehren, Theorien und Praktiken …, das jeweilige medizinische System, seine organisatorischen und epistemologischen Grundlagen. Jede Aufzeichnungs- und Speicherungsart ist Ausdruck einer bestimmten Weise, sich ein Modell einer Krankheit und der Patienten zu machen.“ (S.149)

Anhand der Gestaltung des Deckblattes kann Ledebur der zunehmenden Verwissenschaftlichung der anfangs noch mehr im administrativen Kontext angelegten patientenbezogenen Aufzeichnungen nachspüren. „Das Erheben und Konservieren (von) Daten, so unscheinbar sie vielleicht auch wirken mögen, zeigt etwas von Struktur und Funktionslogik der Institution. Dass ein Formblatt Wahrnehmung lenkt und wertend selektiert, wird hier ebenso deutlich wie die Übersetzungsleistung beim Anordnen einzelner Informationen, um daraus ‚objektives Wissen‘ zu formen. Das Formular ist Verfahrensvorschrift und Verfahrensausführung in einem und bewirkt ein scheinbar transparentes, wertfreies, sachliches Vorgehen.“ (S.154)

 

Die veränderten Zugänge lassen sich aber auch beispielsweise anhand der Arbeitsbedingungen des Personals darstellen, dem Einsatz von weiblichen und männlichen Pflegern, unterschiedlichen Erwartungen an sie und von ihnen, ihren Abhängigkeiten, ihrem Selbstverständnis und ihren Aufgaben. Auch die Situation der Ärzte, ihre Stellung, ihr Einfluss und ihre Arbeitsmöglichkeiten verändern sich mit dem Fachgebiet.

 

Ein weiterer Zugang ist die Alkoholikerfrage'. Sie galt als 'wunder Punkt der Irrenpflege', denn wohin gehörten sie eigentlich? Hier hatten sich im späten 19. Jahrhundert zwei, in der zeitgenössischen Literatur als antagonistisch beschriebenen Sichtweisen herausgebildet. Die sogenannten „Abstinenten“, Anhänger des absoluten Alkoholenthaltungsimperativs, reklamierten die „Wissenschaftlichkeit“ ihrer Theorien für sich. (S.215) Die 'Gegenpartei' waren die „‚Laien der Heilkunde’, welche ‚durch vorzeitige Verallgemeinerungen, Übertreibungen und allgemeine Phrasen‘ eine systematische Bekämpfung der Trunksucht verunmöglichten.“ (S.216)

 

Tatsächlich wurden Alkoholiker in Österreich, wie auch in anderen Ländern, weiterhin in psychiatrischen Anstalten untergebracht und waren dort nicht nur ein beständiger Stein des Anstoßes, sondern machten sogar einen relativ hohen Teil der Insassen aus. (S.218)
Das Problem war die fehlende Zuständigkeit mangels rechtlicher Entscheidungsgrundlagen: „Gewohnheitstrinker werden oftmals bei mäßiger Intelligenzabschwächung durch ihr Leiden gerichtlich als blödsinnig erkannt; […] dieselben aber werden, durch ihr degeneriertes Nervensystem, der Reizbarkeit und Willensschwäche alsbald nach ihrer Rückkehr in die Welt, dem Trunke verfallend, wieder gemeingefährlich.“ (Gauster, 1889)

 

Und schließlich lieferte der Erste Weltkrieg wesentliche Anstöße in der Wahrnehmung psychisch Erkrankter, allerdings in die falsche Richtung: „Der Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie gab 1916 Richtlinien heraus, die den Umgang mit der im Kriege vielfach auftretenden psychischen Erkrankung regeln sollten. Die seelischen und sich oftmals in körperlichen Störungen äußernden Traumatisierungen wurden zumeist unter dem Verdacht der Simulation behandelt.“ (S.190)

 

Frau Ledeburs Thema ist a priori spröde und scheinbar undankbar, denn aussagekräftige Zeitzeugnisse fehlen weitestgehend. Doch mit Akribie und Sachkenntnis hat sie triviale Dokumente 'gelesen' und in Beziehung gesetzt, hat Schlüsse aus dem Nicht-Vorhandenen gezogen und hat auf 275 Textseiten mit 896 Fußnoten ein Gebiet aufgearbeitet, das selten 'beackert' und von daher unbedingt wissenswert ist.

 

Ihr Werk ist keine leichte Kost: Viele Entwicklungen in ihrem Thema sind inhaltlich schwer zu erfassen und noch schwerer zu beschreiben. Die akademischen deutschen Sprachgewohnheiten sowie die gebotene Vorsicht gegenüber leicht als Affront verstandenen Formulierungen führen mitunter zu Wortwahl und Satzkonstruktionen, die dem Leser einiges abverlangen. Die hier angeführten Zitate belegen das. Man ist versucht zu spekulieren: Wie hätte das Werk ausgesehen, wenn es in den USA entstanden wäre? Die amerikanische Wissenschaftskultur macht es ihren Autoren leichter: Sie können einfacher formulieren, ohne fürchten zu müssen, als akademisch nicht kompetent angesehen zu werden.

 

Sophie LEDEBUR: Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne - Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien, Band 5 der Reihe ‚Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte‘, hrgg. von M. G. Ash und C. Sachse, Böhlau-Verlag, Wien-Köln-Weimar 2015, 320 S., 11 Abb., 3 Tab., ISBN 978-3205795827, € 35,00

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 4/2015, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.