Marcello La Speranza NS- und Kriegsspuren in Wien - Expeditionen, Hinterlassenschaften und Zeitzeugen

Ob ein unterirdisches Parkhaus gebaut wird oder ein ganzer Bahnhofskomplex, bei fast jedem größeren Bauvorhaben in Wien werden Spuren der Vergangenheit ans Licht befördert. Funde aus der Ur- und Frühgeschichte sind archäologisch erwünscht, auch Römisches ist willkommen.

 

Aber die Baggerschaufeln bringen auch Zeugnisse der brisanten und teilweise unangenehmen Erbmasse der Vergangenheit mit: Relikte aus der NS-Zeit. Kochgeschirre, Helme und Bajonette, Volksgasmasken und Karabiner, Infanterie-Sturmabzeichen und menschliche Knochen.

 

Nur selten erfährt die Öffentlichkeit davon, etwa als beim Abbruch des alten Südbahnhofs das ausgebrannte Wrack eines Wehrmacht-Fernlenkpanzers (Borgward B IV) im Schutt  auftauchte. „Das restaurierte Fahrzeug wurde schließlich als Attraktion in der Militaria-Sammlung des Heeresgeschichtlichen Museums ausgestellt und gilt, zu Recht, als besonders exquisites Stück.“ (S. 32/ Bd. 2) „Was hingegen mit dem Kriegsschrott und all den Toten, die im Schatten des Panzers gefunden worden waren, passierte, konnte nicht geklärt werden, da die Objekte leider zu schnell in alle Himmelsrichtungen verstreut wurden.“ (S. 35/ Bd. 2)

 

1040 Wien, Mostgasse, aufg. 11. 3. 2017

Doch um in Wien Überbleibsel aus der NS-Zeit zu sehen, muss man nicht einmal bohren und graben. Sie sind (noch) allgegenwärtig: Aufschriften, Pfeile, Hinweisschilder, Leuchtstreifen, verstärkte Türen, seltsame Kellernischen, Gedenktafeln, Gebäudeteile, verfallende Fundamente, rostige Metallstücke, Dachaufsätze etc. Sie entpuppen sich als Notausstiege aus Luftschutzkellern, von der Zeit zerfressene Nazi-Auszeichnungen, Reste von Sirenen oder abgeschossenen US-Bomber, ehemalige Gefängniszellen, Fluchttunnels etc. Man muss nur hinschauen.

 

Der Archäologe und Historiker Marcello La Speranza schaut hin. Seit mehr als zwanzig Jahren erkundet er die Stadt auf der Suche nach sichtbaren und unsichtbaren Relikten. Er besichtigt Dächer und Keller, fragt Hausbewohner, Hobbyforscher und Zeitzeugen und arbeitet sich durch Überreste jeglicher Art.

 

Sein Zugang fasziniert, weil er seine Leser vom Kleinen ins Große führt statt umgekehrt. Anhand winziger Fragmente, fast unlesbarer Aufschriften, zerschlissener Rudimente, unverständlicher Abkürzungen, verrosteter Metallteilchen etc. rollt er politische Entwicklungen und vergessene Lebensgeschichten auf. So  erzählt er etwa detailliert und ausführlich vom Mord im Chemischen Institut am 5. April 1945, bei dem es um den Schutz eines Elektronenmikroskopes ging (S. 167/ Bd. 1), vom Schicksal der Kinder in der Wiener städtischen Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse (S. 136/ Bd. 1), von Widerstandsgruppen, die die Sprengung der Getreidesilos im Alberner Hafen verhinderten (S. 223/ Bd. 1) und von den vielen kleinen Schritten, die zur Identifizierung eines der letzten über Wien abgeschossenen US-Bombers führten (S. 102/ Bd. 1).

 

Viele Fotos, zum Teil noch niemals veröffentlicht, Skizzen, Baupläne, Abschriften von Akten, Vergleichsaufnahmen, Tagebucheintragungen, Schulaufsätze, Programmhefte, Auszüge aus Einsatzberichten etc. zeigen die Fülle des bearbeiteten Materiales. La Speranzas Bücher sind keine vergnügliche Lektüre, stattdessen wühlt man mit ihm im Staub. Aber es ist wissenswert zu erfahren, in welchem Ausmass wir in Wien noch von Relikten der NS-Zeit und des 2. Weltkrieges umgeben sind. Spätere Generationen von Wissenschaftern werden ihm dafür danken, dass er sich die wenig prestigeträchtige Mühe gemacht hat, es zu untersuchen und zu dokumentieren. Weitere Bände sind bereits in Arbeit.


Der einzige Wermutstropfen ist das im Verhältnis zur beträchtlichen Seitenzahl doch sehr kleine Format der Bände, das die Arbeit mit ihnen nicht leicht macht.

 

Marcello LA SPERANZA: NS- und Kriegsspuren in Wien - Expeditionen, Hinterlassenschaften und Zeitzeugen, Wien: Mokka, Band 1: 2015, ISBN 978-3902693587, 288 Seiten, € 19,50; Band 2: 2016, ISBN 978-3902693693, 284 Seiten, € 19,50.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 1/2017, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.