Überleben durch Täuschung: Ganz der Vater

Mit einem schlauen Trick wurde der Apotheker Fritz Silten im NS-Konzentrationslager Theresienstadt gerettet: Seines Vaters bahnbrechende Erfindungen wurden ihm zugeschrieben.


Fritz Silten

Die Idee war so einfach wie genial, mit der der Lübecker Industrielle Heinrich Dräger und der Berliner Anwalt Helmut Pfeiffer das NS-Regime täuschten: Wenn man den jüdischen Pharmazeuten Fritz Silten in Ruhe forschen ließe, könnten seine Erfindungen wertvoll für Deutschland sein. „Verfahren und Apparat zum Aufbringen von Flüssigkeiten und schmelzbaren Stoffen auf den menschlichen Körper. Mit [dieser] Methode können Wunden aller Art, Schnitt, Riss und Quetschwunden, infizierte Wunden, gangränöse Wunden, Frakturwunden, Verätzungen, Absczesse, Geschwüre, Furunkeln, Verbrennungen u.s.w. auf die zuverlässigste Weise behandelt werden.“


Ilse Silten

So etwas konnten deutsche Soldaten und deutsche Zivilisten brauchen; die Nazis willigten daher ein. Silten wurde von seinen Pflichten als KZ-Strassenkehrer entbunden und mitsamt seiner Frau Ilse und der kleinen Tochter Ruth Gabriele in ein besseres Quartier umgesiedelt. Kiste um Kiste mit Chemikalien, Laborausrüstung und wissenschaftlicher Literatur verließen das Drägerwerk Richtung Theresienstadt. Was unterwegs nicht gestohlen oder ‚umgeleitet’ worden war, diente zur Ausstattung eines ‚Laboratoriums’. Das Konzept ging auf: Die kleine Familie überlebte.


Ernst Silten

Die Voraussetzungen für die Tarngeschichte waren gut: Der Berliner Industrielle Ernst Silten (geb. 1866), Besitzer der Kaiser-Friedrich-Apotheke in der Karlstrasse, war ein bedeutender Forscher und Erfinder. Von einer dunklen Ahnung erfüllt hatte er Anfang 1943 an den Sohn geschrieben: „Bei meinen neuen Arbeiten, die ich nach verschiedenen Richtungen für ausbaufähig halte, - um es kurz anzudeuten medizinisch bei Trachom, bei Paradentose und in vielen anderen Fachgebieten der Medizin, hygienisch kommt das ungeheure Gebiet der Schädlingsbekämpfung in Betracht, technisch das große Gebiet der Verwendung der Farbspritzen, - muß ich Dir natürlich noch alle Unterlagen und Informationen geben, die Dich in den Stand setzen selbständig weiter zu arbeiten, aber ich muß mit meinen 77 Jahren möglichst schnell ausrangiert werden, ganz abgesehen davon, dass ich jeden Moment bei meinem Alter abgerufen werden kann.“ Tatsächlich kam er im März 1943 auf tragische Weise ums Leben, aber sein guter Name rettete dem Sohn das Leben.

 

Ein prominenter Arzt wurde ‚eingespannt’

Otto Roth

„Die mir zur Begutachtung vorgelegte Erfindung [...] scheint mir für medizinische Zwecke durchaus vielversprechend“, bestätigte im September 1943 der Lübecker Professor Otto Roth den praktischen Wert der wissenschaftlichen Arbeit, ohne auf den genauen Urheber einzugehen. Roths Meinung galt etwas: Er war der Entwickler des weltweit ersten Anästhesiegerätes und frühere Leiter des Allgemeinen Krankenhauses in Lübeck. In seinem Gutachten für das NS-Judenreferat entwarf er weitere Einsatzmöglichkeiten: „Sie wird sich für Krankenhäuser und Privatpraxis gleich nützlich erweisen [...]. So z.B. zur Behandlung von 1) Erkrankungen des Kehlkopfes, der Bronchien und der Lunge. 2) Hautkrankheiten, indem man die Medikamente in feinster Form aufspritzt und dann verreibt (an Stelle von Salbenverbänden). 3) Zur Desinfektion von Luft und Kleidung. Weitere Möglichkeiten werden sich bei Gebrauch von selbst ergeben [...].“


Heinrich Dräger

Nun kam wieder Heinrich Dräger ins Spiel: Ganz geschäftsmäßig und scheinbar nur auf den Vorteil seines Unternehmens bedacht, suchte im November 1943 um die Freistellung von Fritz Silten an: „[...] beantragen wir hierdurch Dr. Fritz Silten zur Fortsetzung seiner Arbeiten Gelegenheit zu geben auch im Lager. Die Arbeiten als solche sind, laut beigefügtem Gutachten so interessant und erfolgversprechend, dass es unbedingt zweckmäßig ist, wenn dieses geschieht. Bei diesen Arbeiten handelt es sich um Forschungen, welche noch nicht in ihrem endgültigen Ergebnis vorliegen. Es besteht aber die Aussicht, dass praktische Resultate in verhältnismäßig kurzer Zeit erzielt werden. Wir bitten deshalb von uns aus als Hersteller von medizinischen Geräten und Apparaten S. Gelegenheit zu geben, diese Versuche fortzusetzen [...].“ Und er winkte auch gleich mit Geld: „Etwa in Frage kommende Kosten müssen, da wir an diesen Arbeiten interessiert sind, selbstverständlich durch uns getragen werden.“

 

Helmut Pfeiffer, Anwalt in Berlin, NSDAP-Mitglied, SS-Offizier, Judenretter

Helmut Pfeiffer

Die geniale Täuschung wurde von zwei Männern ausgeheckt: Von Siltens langjährigem Geschäftsfreund Heinrich Dräger und von Helmut Pfeiffer. Der bullige Westfale Pfeiffer nützte seine Position im Dunstkreis des gefürchteten Ministers Hans Frank für eigene Aktivitäten. Pfeiffer fungierte als Generalsekretär der Internationalen Rechtskammer (Präsident: Hans Frank), als ‚Führer’ im Reichssicherheitshauptamt und gleichzeitig auch als Rechtsanwalt in Berlin. Schon früh war er der NSDAP beigetreten, hatte dank eines prominenten Fürsprechers auch bald Aufnahme in die SS gefunden. Dank seiner verschiedenen Positionen verfügte er über Insiderwissen und ausgezeichnete Kontakte. Pfeiffer sorgte dafür, dass Gutachten, Antrag und Geld an die richtigen Leute in der NS-Maschinerie kamen. Ende Mai 1944 kann er stolz an Dräger berichten, dass „meine Vorsprache bei SS-Sturmbannführer Günther, dem Leiter des Judenreferates im Reichssicherheitshauptamt, den gewünschten Erfolg gehabt hat. Er hat in meiner Gegenwart die Anweisung gegeben, dass Dr. Fritz Silten im Lager Theresienstadt Ihnen für kriegswichtige Laborarbeiten zur Verfügung gestellt wird. Silten erhält zu diesem Zwecke mit seiner Familie eine besondere Unterkunft angewiesen.“


Gabriele Silten

Günther war zwar ‚nur’ stellvertretender Leiter; sein Chef SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des RSHA war zu dieser Zeit in Ungarn, um die Deportation der dortigen Juden zu organisieren – doch es klappte. Die kleine Tochter Gabriele Silten erinnert sich daran: „Aus irgendeinem Grund wurde meine Familie in einen kleinen ‚privaten’ Raum verlegt [...].“ Zuvor war die Familie in getrennten Baracken untergebracht gewesen. Es änderten sich auch die Aufgaben ihres Vaters: „Mein Vater begann als Straßenreiniger, ausgerüstet mit Karre, Schaufel und einem aus Zweigen gebundenen Besen. Später wurde er neu eingeteilt und zum Apotheker von Theresienstadt. Es gab zwar so gut wie keine Medikamente im Lager, aber die Nazis hatten für die Arzneimittel aus dem Gepäck der Lagerinsassen etwas Platz geschaffen; dieser Raum wurde ‚Apotheke’ genannt. Hier arbeitete mein Vater mit einem Assistenten [...].“ Im Juni 1945 konnten die drei Siltens das KZ Theresienstadt lebend verlassen.

 

Nicht immer helfen die guten Kontakte

Für ihren Freund Philipp Kozower samt Familie kommt Helmut Pfeiffers Intervention zu spät. Sie werden von Theresienstadt in das Konzentrationslager Auschwitz weitergeschickt und dort am 12. Oktober 1944 umgebracht. Ironischerweise wird Pfeiffer im Glauben gelassen, noch etwas erreicht zu haben: „In der Angelegenheit Dr. Kudzowa habe ich mit dem Reichssicherheitshauptamt, Judenreferat, gesprochen und das Schreiben aus Kopenhagen von Herrn Nielsen vom 11. 9. 44 dort abgegeben. Es ist von dort aus auch bereits zum Zentralamt in Prag abgegangen, und man wird voraussichtlich Herrn Dr. Kudzowa auch fragen, welche anderen ausländischen Beziehungen er noch hat, da es als wichtig erscheint, Personen wie Dr. Kudzowa mit wichtigen Beziehungen zum Ausland besonders zu schützen.“ Zu diesem Zeitpunkt ist der fälschlich ‚Kudzowa’ geschriebe Kozower schon tot.


Willie Levysohn

Dass auch noch so gute Kontakte in den NS-Apparat, wie Pfeiffer sie hat, versagen können, beweist sich an einem weiteren Beispiel: Der dänische Großkaufmann und –händler Willie Levysohn war am 29. August 1943 mit anderen Prominenten von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet worden. Da er aber nicht nur reich und prominent sondern auch Jude ist, wird er nicht freigelassen, sondern am 14. Oktober 1943 mit dem Gefangenentransport XXV/3 nach Theresienstadt gebracht. Helmut Pfeiffer und sein dänischer Kollege Erik Reitzel Nielsen bemühen sich, Levysohn von Theresienstadt nach Schweden bringen zu lassen, wo fast alle dänische Juden Aufnahme gefunden haben. Da Pfeiffer auch in Dänemark die richtigen Leute kennt, scheint ihre Intervention erfolgreich. Da stirbt Levysohn am 16. März 1944 in Theresienstadt – angeblich an einer Lungenentzündung.


Mirjana Tomljenovic

Über Pfeiffers Motive für seine Wandlung vom treuen NS-Gefolgsmann zum Judenretter lässt sich nur spekulieren. Ebenso über Art und Anzahl seiner Hilfsaktivitäten. Nach dem Krieg wird seine Verlobte Mirjana Tomljenovic-Markovic aussagen: „Herr Dr. Pfeiffer hat vielen Juden, die in Theresienstadt und anderen Konzentrationslägern waren, geholfen [...].“

 

Die Recherche nach Helmut Pfeiffer dauerte fünf Jahre und führte nach Lübeck, Berlin, Kopenhagen und Krakau; das bisherige Ergebnis ist soeben als Buch erschienen; weitere Informationen erhofft die Autorin von LeserInnen: Susanne Krejsa ‚Spurensuche. Der NS-Anwalt und Judenretter Helmut Pfeiffer’, Vergangenheitsverlag Berlin, ISBN 978-3864080036