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Susanne Krejsa MacManus' Fingerübungen

9/2020: „Gebt uns den Raum, das Ziel werden wir uns setzen!“*

Seit meiner Aufnahme in eine akademische Arbeitsgruppe habe ich viel Kontakt mit jungen Kolleg*innen. Wenn ich ihnen zuhöre, kommt mir das Weinen: Kaum eine/r hat einen fixen Job. Stattdessen hangeln sie sich von Kurzzeitprojekt zu finanzierter Kongressteilnahme zu befristeter Anstellung zu Vorlesungstätigkeit (bloß) gegen Ersatz der Reise- und Aufenthaltskosten. Den Begriff ‚Akademisches Prekariat‘ kannte ich vorher nicht, denn meine eigene Laufbahn hatte unkompliziert begonnen: Kaum war ich mit dem Studium fertig, hatte ich eine Stelle als Universitätsassistentin.

www.uni.at/studium/studieren-mit-kind/

Doch anders als ihre Kolleginnen müssen junge männliche Wissenschafter nicht oder wenigstens nicht in diesem Ausmaß darüber nachdenken, wann ein günstiger Timeslot für ein Baby wäre, wann/ob sich ein intensiver Forschungs- oder Schreib-Endspurt mit den Öffnungszeiten der Kinderkrippe verbinden ließe oder ob Oma einfliegen könnte, um Fläschchen und Badewasser zu wärmen.

Wenn frau die Entscheidung zwischen einer Karriere-nützlichen Aufgabe und der Fortpflanzung treffen muss, kommt sie leicht zu spät. Die biologische Uhr der männlichen Kollegen tickt hingegen langsamer.

Und dann kam noch Corona dazu.

6 Mitarbeiter*innen des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Wien haben vor kurzem eine Initiative gestartet, um die politischen Entscheidungsträger*innen auf die durch Corona verschärften Bedingungen für (Jung)Wissenschafter hinzuweisen. Der Offene Brief wurde von 1469 Unterzeichnern aus dem universitären und ausseruniversitären Forschungsbereich unterschrieben – auch von mir. Gefordert werden:

Ø Die Anpassung bestehender Dienstverhältnisse (Vertragsverlängerung um ein Semester für befristete Stellen, Option auf mindestens ein lehrfreies Semester, um die Erstellung von Qualifizierungsarbeiten zu ermöglichen etc.).

Ø Die Entwicklung einer nachhaltigen Wissenschaftsstrategie für die Zeit während und nach der COVID19-Pandemie basierend auf Empfehlungen wissenschaftlicher Stakeholder aus allen Statusebenen. 

Ø Inklusion, demokratische Mitbestimmung und transparente Kommunikation für Angestellte und Studierende in hochschulinternen Krisenstäben, um deren Interessen und Bedürfnisse zu vertreten.

Je restriktivere Massnahmen der coronabedingten Selbstisolation in den einzelnen Ländern verordnet wurden, desto stärker wuchs das Ungleichgewicht zwischen weiblichen und männlichen Wissenschaftern. Das British Medical Journal, die Zeitschrift Nature, das Magazin TheConversation, die Harvard University sind nur einige der international vielen Institutionen und Medien, die Alarm schlagen: Zwischen Jänner und Juli 2020 ist die Zahl weiblicher Autoren von wissenschaftlichen Papers drastisch gesunken. Betroffen sind vor allem Frauen in frühen akademischen Stadien sowie solche, die den Hauptanteil am jeweiligen Forschungsprojekt geleistet haben. Warum wohl?

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Österreichisches_Staatsarchiv.jpg

Wenn wir erstklassige Forschungsergebnisse abliefern wollen, die international beachtet werden, dann müssen wir originäre Forschung erleichtern. Ich will nicht pessimistisch sein, aber ich sehe die große Entlastung des akademischen Nachwuchses durch staatliche Finanzspritzen nicht kommen. Ich sehe aber Möglichkeiten, wie die Arbeitsbedingungen wenigstens organisatorisch verbessert werden könnten. Beispielsweise von Seiten einzelner Archive, die es noch nicht begriffen haben, dass sie Dienstleister der Wissenschaft sind:

So hätte beispielsweise das Österreichische Staatsarchiv in Erdberg riesige freie Flächen zur Verfügung (Stiegenhäuser, Aufgänge, Vorhallen etc.), in denen ganz leicht jede Menge provisorischer Arbeitsplätze eingerichtet werden könnten. Was geschieht stattdessen? Die Anzahl der Arbeitsplätze im Forscherlesesaal wird auf magere 20 zusammengekürzt; wer im Morgengrauen zwecks Terminbuchung an den häuslichen Computer stürzt, kann - vielleicht – wenigstens in 4 Wochen einen Platz ergattern.

Quelle: www.flohmarktscheune-wittmund.de

Nachmittags stehen die meisten Plätze dann leer, weil man für seine Arbeit ja oft nur wenige Dokumente braucht, aber die dafür dringend. Nein, nachmittags werden die freigewordenen Plätze nicht nochmals vergeben, weil die Putzfrauen zu Mittag nach Hause gehen, die die Tische desinfizieren. Darf ich schüchtern einwerfen, dass man mir in jedem Supermarkt zutraut, meinen Einkaufswagen selbst zu desinfizieren?

Ich will aber auch loben: Einige Archive tun absolut ihr Bestes, etwa das Wiener Stadt- und Landesarchiv oder das Archiv der Universität Wien.

Quelle: www.uni.at/studium/studieren-mit-kind/

Zurück zu den WissenschafterInnen, deren Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeiten aufgrund von Corona-Massnahmen (Kinderversorgung, Haushaltsaufgaben und Familienpflichten) noch stärker zu kurz kommen als die ihrer männlichen Partner und Kollegen. Für sie wäre ‚Neu-Denken‘ hilfreich: Da Bibliotheks- und Archivteams zu Kurzarbeit und Homeoffice ‚verdonnert‘ werden, schrumpft notgedrungenermassen ihre Kapazität für Recherchehilfen – selbst beim allerbesten Willen, den ich ihnen gar nicht absprechen kann. Statt einer Arbeitszeit-Reduktion wäre gerade in Corona-Zeiten eine personelle Aufstockung und Ausweitung für die informationsempfangenden ForscherInnen äußerst hilfreich.

Damit ist aber das Problem der gestörten/unterbrochenen/reduzierten Arbeitszeit der JungakademikerInnen noch immer nicht gelöst. Na, wie wäre es mit einer stundenweisen Kinderbetreuung in einer der vielen leeren Säle des Staatsarchivs? Etwas das die HochschülerInnenschaft an der Uni bewerkstelligt hat, lässt sich wohl auch auf andere Institutionen übertragen.

Lasst mal die Betroffenen zu Wort kommen, an Ideen mangelt es denen nicht.

Die Umsetzung braucht dann allerdings einen kräftigen Schubs ‚von oben‘; wie sonst soll der Motor wieder anspringen?

* Das Zitat aus dem Titel stammt von Dr. med. Rosa Kerschbaumer (1851 o.1854-1923), der ersten in Österreich praktizierenden Ärztin. (F. Seebacher „Die Macht der Idee”. Rosa Kerschbaumer und die Öffnung der Universität Wien für das „andere” Geschlecht. In: Ilse Korotin (Hg.), 10 Jahre „Frauen sichtbar machen“. biografiA – datenbank und lexikon österreichischer frauen. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst 63, 1–2 (2008) 50–56.)

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