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Susanne Krejsa MacManus' Fingerübungen

2/2024: Porto ist gar nicht harmlos

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Zum Jahreswechsel in Porto. Der höchste Turm ist bestiegen, der Dom besucht, die Restaurants getestet. Auf ins Naturhistorische Museum. Es gibt nicht allzuviel zu sehen, weil gerade im Umbau: Mineralienausstellung, Schlangengift-Präsentation sowie das eindrucksvolle Jugendstil-Laboratorium eines Professors, dessen Name mir nichts sagt. Noch nichts.

Es handelt sich um António Joaquim Ferreira da Silva (1853-1923), Professor für Chemie am Polytechnikum von Porto und Direktor des städtischen Laboratoriums. Drei Jahre verbrachte er Tag und Nacht in diesem Labor, entwickelte neue Geräte und bis dahin unvorstellbar genaue Nachweismethoden, dank derer er einen spektakulären Giftmord aufklären und damit der gerichtlichen Toxikologie in Portugal zu großer Bedeutung verhelfen konnte.

Zum Vergößern bitte klicken. Quelle: https://www.researchgate.net/figure/Portraits-of-Vicente-Urbino-de-Freitas-A-and-his-wife-Maria-das-Dores-Basto-Sampaio_fig1_329078952

Täter war quasi ein Kollege, Vicente Urbino de Freitas (1849-1913), renommierter Professor für Physiologie und vielgerühmter Lepra-Forscher an der Universität Porto. Durch seine Abhandlungen über Pflanzen-Alkaloide hatte er sich einen großen Ruf erworben.

Kurz nachdem er 1877 die reiche Tuchhändler-Tochter Maria das Dores Basta Sampaio geheiratet hatte, kam es zu seltsamen Todesfällen in ihrer Familie. Im April 1890 wurde er wegen des Verdachts verhaftet, den Neffen seiner Frau mit Morphin, Narcein sowie dem Rittersporn-Gift Delphinin vergiftet zu haben, um sich einen Konkurrenten für das schwiegerväterliche Erbe von 4 Millionen Peseten vom Hals zu schaffen. Weitere Verdachtsfälle tauchten auf.

Giftmord(versuche) scheinen in seiner Familie Tradition gehabt zu haben: Die Großmutter wollte ihren Mann mit vergiftetem Essen beseitigen, und Vicente Urbino de Freitas Vater war von einem seiner Söhne mit Suppe vergiftet worden.

Zum Vergrößern bitte klicken. Mährisches Tagblatt vom 8. Juli 1893. Quelle: ANNO

In einem langwierigen Gerichtsprozess bemühten sich viele angesehene Wissenschafter aus Portugal und Deutschland um Aufklärung, kamen aber zu widersprüchlichen Ergebnissen – bis António Joaquim Ferreira da Silva seine neuen Analysen vorlegte. Nachdem mehr als 100 Zeugen vernommen worden waren, darunter auch solche, die sich als Helfershelfer des Professors bei seinen Verbrechen bekannten, wurde er 1893 zu einer 20jährigen Gefängnisstrafe mit nachfolgender Verbannung nach Angola verurteilt.

Spannend, nicht wahr? So spannend, dass ich unbedingt darüber schreiben möchte. Aber wen interessieren Mordfälle aus einer Stadt in Portugal, die nur durch die Herstellung von Portwein bekannt ist? War einer der beiden Akteure je in Österreich, möglichst in Wien? Gibt es irgendeinen sonstigen Aufhänger, mit dem ich meine LeserInnen „anfüttern“ könnte? Ich frage Ricardo Jorge Dinis-Oliveira, der sich als Forensiker seit vielen Jahren mit diesem Fall beschäftigt und seine Bedeutung mit dem ominösen Verschwinden von Maddie McCann im Jahr 2007 vergleicht.

Zum Vergrößern bitte klicken. Das Vaterland vom 28. 7. 1898. Quelle: ANNO

Ja, sagt Ricardo, Prof. da Silva war einmal in Wien, 1898, als Teilnehmer beim  „III. internationalen Congress für angewandte Chemie“. Ich mache mich auf die Suche. In der Nationalbibliothek finde ich den 3bändigen Kongressbericht. Auf der Zeitungsplattform ANNO gibt es jede Menge Berichte, auch über den spektakulären Giftmord-Prozess.

 

Reicht das für eine Story? Über den portugiesischen Professor habe ich nichts weiter gefunden. Wie ist er eigentlich nach Wien und wieder heim gekommen – Porto liegt ja nicht gerade ums Eck. Wer heute die Strecke mit dem Zug bewältigen will, braucht dafür mehr als 45 Stunden und muss 8 x umsteigen. Und wie war es damals?

Zum Vergrößern bitte klicken. Quelle: https://pt.todocoleccion.net/selos-portugal/portugal-1956-antonio-joaquim-ferreira-da-silva-quimico~x371552071

Ich frage Stefan Lueginger, einen Eisenbahnhistoriker: „António Joaquim Ferreira da Silva brauchte mindestens 7 bis 10 Tage, vorausgesetzt, dass keine Zugausfälle oder sonstige Hindernisse die Reise verlängerten. An der Grenze zwischen Frankreich und Spanien mussten die Züge gewechselt werden, weil die Schienensystem unterschiedlich sind (Spurweite Frankreich 1435mm, Spanien und Portugal 1668mm). Es gab und gibt auch nur zwei Bahngrenzübergänge zwischen Frankeich und Spanien, einmal über Hendaye/Irun und dann Vigo und einmal über Perpignan.“

Die Reise war auch nicht billig, sagt Stefan Lueginger: „Wenn ich die mir bekannten Fahrpreise zwischen Wien und Paris als Basis nehme und dann linear hochrechne über die ganze Strecke, mangels sonstiger konkreter Unterlagen, kommt man auf eine Summe, die etwa einem Monatseinkommen einer gehobenen Stellung damals entspricht (Ministerialrat, Filialdirektor einer Bank, Inhaber einer mittleren Firma u.ä.).“

Vielleicht dauerte die Reise sogar noch länger, ergänzt Lueginger: „Was eventuell noch zu berücksichtigen wäre, die Menschen damals waren gar nicht so schlecht untereinander vernetzt, denn die (Brief-)Post funktionierte ziemlich gut und auch relativ schnell, eben auch per Bahnpost und perfekten Anschlüssen (denn damit konnten die Bahnverwaltungen Geld verdienen). Und außerdem war der ‚Fernschreiber‘ in Form des Zeigertelegrafs oder auch des Morseapparats schon erfunden, womit sehr schnell Nachrichten über große Distanzen gesandt werden konnten. Daher nutzten die Reisenden die jeweiligen Aufenthalte auch, um Personen zu treffen, die sie sonst nur schriftlich kontaktieren konnten. Außerdem waren die damaligen Reisenden eher gebildete Personen und nützten die Aufenthalte auch dazu, Museen oder besondere Baulichkeiten oder Bibliotheken zu besuchen o.ä. Damit wäre auch eine längere Gesamtreisezeit möglich.“

Übers Bahnfahren im Jahr 1898 weiß ich jetzt viel. Über die Giftmorde muss ich erst das umfangreiche Material studieren, das sich auf meinem Schreibtisch staut.

Bis dahin kann ich die "Serial Killer Database" empfehlen, auf der Vicente Urbino de Freitas zu finden ist.

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