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Susanne Krejsa MacManus' Fingerübungen

3/2021: Grimms Märchen

Höchste Zeit, heute etwas von meinem Forschungsprojekt zu erzählen, das mich seit gut einem Jahr beschäftigt: Es geht um Österreichs Versorgung mit Penizillin unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, als wir dieses wichtige Medikament noch nicht selbst herstellen konnten. Mich fesselt die Mischung aus zeitgeschichtlicher Dramatik, Spannung und gelegentlich sogar komischen Facetten, wie beispielsweise bei den folgenden Schwarzmarktgeschichten.

Im April 1946 ließ ein Betrunkener in einem Berliner Bierbeisl eine Flasche Penizillin fallen. Das führte zur Ausforschung einer Gaunerbande aus sieben Männern und drei Frauen, die leere Penizillinfläschchen gekauft und gefüllt mit einfacher Traubenzuckerlösung verkauft hatten. Sie hatten auch puderförmiges „Penizillin“ im Angebot, tatsächlich handelte es sich um eine Mischung aus Make-up-Puder und zermahlenen Atabrin-Tabletten, die normalerweise für die Behandlung von Malaria verwendet werden. Einer ihrer Kunden, ein russischer Offizier, musste nach Injektion des gefälschten Penizillin auf die Intensivstation verlegt werden.

Dummheit und Gier ließ auch im Juni 1946 einen Schmuggel auffliegen, weil ein Matrose damit angegeben hatte, ohne Arbeit bald reich zu sein. Nach der ergebnislosen Durchsuchung seines Apartments war der Sicherheitsbeamte schon am Gehen, öffnete aber schnell noch den Kühlschrank und staunte, dass Schuhschachteln darin waren. Sie enthielten mehr als 300 Penizillinfläschchen - Schwarzmarktpreis $25.000.


Ein Beispiel für die Krone einer Schönheitskönigin, in diesem Fall eine Kreation von George Wittels. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Miss_teen_universe_CORONA.jpg

Mein absoluter Lieblingsfund ist dieser hier: Eine angebliche Miss Austria, Norberta Grimm, hatte offenbar zwei Angehörigen der amerikanischen Besatzungsmacht in Wien den Kopf verdreht. Um ihr einen großen Diamantring kaufen zu können, stahlen die beiden Penizillin aus Armeebeständen, die das Mädchen am Schwarzmarkt verkaufen oder eintauschen sollte. 

Bloß: Eine Miss Austria gab es weder im Jahr 1928, wie von der New York Times fälschlich angeführt, noch im Jahr 1938, wie ebenso falsch in der Soldatenzeitung der amerikanischen Truppen in Europa berichtet wurde. Auch in der Liste der Preisträgerinnen der anderen Jahre scheint niemals jemand ihres Namens auf. Ebensowenig lassen sich Angaben über eine „Norberta“, „Norbeta“ oder ggf. „Roberta“ Grimm ermitteln; möglicherweise ist also auch ihr Name nicht ganz echt.


Quelle: Wr. Kurier v. 18. 5. 1946, S. 3.

Fräulein Grimm wurde von einem Militärgerichtshof der amerikanischen Truppen in Österreich zu einer Strafe von 18 Monaten verurteilt, ihr Komplize Capt. Hyman Vernonsky aus New York City erhielt zwei Jahre und wurde degradiert, der Sanitätsoffizier Capt. George Neusbaum, ‚nur‘ drei Monate Haft und eine Geldstrafe von $2.000, weil er sich hatte überreden lassen. Ertappt wurden sie, als Neusbaum zehn Flaschen Penizillin an Grimm übergab, Schwarzmarktpreis pro Flasche $10.000.

Österreichische Zeitungen berichteten zwar auch darüber, aber nur sehr trocken: Kein Wort vom versprochenen Diamantring, bloß eine kurze Erwähnung ihres Namens in einer Liste von abgeurteilten SchwarzhändlerInnen. Wir erfahren lediglich, dass sie staatenlos gewesen sei. 

Was der Story dann aber doch eine gewisse Pointe verleiht, ist die zeitliche Koinzidenz mit einem Vortrag, den der berühmte britische Penizillinexperte Prof. Ronald V. Christie über das „Wundermittel Penizillin“ in Wien hielt - nachzulesen in derselben Ausgabe des Wr. Kurier, bloß eine Seite weiter hinten.


Quelle: https://babylonberlin.eu/programm/festivals/orson-welles/988-der-dritte-mann-the-third-man

Aber vielleicht steckte doch mehr dahinter als eine bloße Liebesgeschichte? In den Biografien der beiden amerikanischen Armeeangehörigen fand Michael Hotchkiss, Betreiber der Internetseite „Dark Arts Criticism“, so viele Parallelen zu Akteuren sowjetischer Spionageaktionen (beispielsweise den berühmten Cambridge Five), dass er daraus seine Schlüsse zieht. Er sieht auch Verbindungen zu Graham Greenes eigener Lebensgeschichte, sowie zu dessen Film ‚Der Dritte Mann‘, und zur politischen Biografie von Orson Welles, der darin Harry Lime verkörpert. „It really makes me wonder if Vernosky might have been dealing in more than penicillin […] There is too much smoke here to assume there is absolutely no fire.” Die weibliche Hauptrolle im Film (Norberta Grimm?) wird übrigens auch von einer nur ‚halben‘ Österreicherin gespielt, der Schauspielerin Alida Valli, mit bürgerlichem Namen Alida Maria Laura Altenburger von Marckenstein und Frauenberg.


Quelle: Joseph M. Maurer / Library of Congress
Third International Pageant of Pulchritude and Ninth Annual Bathing Girl Revue, June 1928 in Galveston, Texas.

Wenn ich mit meinen Penizillinforschungen zu Ende gekommen sein werde, dann möchte ich einem Hinweis der Autorin Elisabeth Patsios nachgehen. Sie beschäftigte sich in ihrem Buch "Die Schönsten der Schönen" mit der Geschichte der Miss Austria 1929 - 2009.

Bei ihren Recherchen stieß sie tatsächlich auf eine österreichische Teilnehmerin an einer Schönheitskonkurrenz in Amerika im Jahr 1928. Leider ließ sich ihr Name nicht ergründen.

Hieß sie vielleicht Norberta Grimm? 

Wer weiß, vielleicht war es doch kein Märchen?

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Meine Fingerübungen kommen hin und wieder, wenn ich etwas zu erzählen habe.
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