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Susanne Krejsa MacManus' Fingerübungen

8/2020: Der Dritte Mann stand schon vor der Tür.

Glasfenster für Sir Alexander Fleming in der Church of St. James, Sussex Gardens, Paddington, London

Fast zeitgleich mit der aktuellen Corona-Pandemie begann das Ringen um den Fortbestand der einzigen europäischen Penizillinherstellung in Kundl/Tirol. Eine Schließung dieser Produktion hätte Österreich und die ganze Welt von chinesischen Lieferungen des Wirkstoffes abhängig gemacht, laut WHO eines der Essential Drugs.

Glücklicherweise kam es im Juli zu einer Einigung. Dank einer Finanzspritze von Bund und Land und einer großen Investition des Herstellers ist Europas Penizillinversorgung für die nächsten 10 Jahre gesichert. Damit ist eine Situation abgewendet, wie sie Österreich und andere Länder unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg so ähnlich erlebt haben.

Österreich und andere Länder waren bereits einmal in der Situation völliger Abhängigkeit von ausländischen Penizillin-Lieferungen, nämlich unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges. Das 1928 entdeckte und 1941 in die Therapie aufgenommene Antibiotikum konnte (in relevanten Mengen) nur von Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika hergestellt werden. Beide Länder statteten damit ihre Truppen aus; aufgrund seiner Kriegswichtigkeit wurde ab 1943 die Publikation aller Informationen hinsichtlich der Auswahl geeigneter Kulturstämme, Produktionsbedingungen und medizinischer Anwendung gesperrt. Aber Nazi-Deutschland war ohnehin nur mäßig interessiert, hatte sich seinerseits gegen wissenschaftliche Informationen aus dem Ausland abgeschottet, beispielsweise ab November 1937 gegenüber der Zeitschrift Nature. Statt auf (englisches) Penizillin setzte es auf (deutsche) Sulfonamide.

Erst Ende 1943 flammte in Deutschland Interesse an Penizillin auf, doch konnte der Vorsprung Großbritanniens und der USA nicht eingeholt werden. Dann war der Krieg zu Ende und Penizillin bitter nötig, doch ließ sich die Penizillin-Produktion nicht aus dem Boden stampfen: Sowohl das Wissen als auch die Materialien fehlten. Im befreiten Österreich war es nicht besser: Aufgrund unserer politischen Abhängigkeit von Deutschland, unserer geografischen Kleinheit und unserer fehlenden Pharmainfrastruktur war auch in Österreich keine Eigenentwicklung möglich gewesen.

Die erste Penizillinlieferung durch die UNRRA kommt am 18. Mai 1946 nach Wien. Quelle: ONB Bildarchiv US 2135b

Deutschland behalf sich bis zum Anlaufen einer eigenen Produktion zumindest teilweise mit der Rückgewinnung von Penizillin aus dem Harn alliierter Patienten, die wegen Geschlechtskrankheiten in Behandlung waren.

Österreich erhielt ab Mai 1946 kleine Mengen des Antibiotikums durch die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA): „Das erste Quantum Penicillin im Wert von 40.000 $ ist in Wien eingelangt. Da diese Lieferung nur ausreicht um innerhalb der naechsten 6 Monate taeglich beilaeufig 20 Faelle zu behandeln, kann es nicht praktischen Aerzten zur Verfuegung gestellt werden, sondern wird von Spezialisten in bestimmten Kliniken Wiens und der Provinzhauptstaedte verabreicht werden.“ Tatsächlich musste über jeden einzelnen Penizillin-Patienten minutiös Buch geführt werden.

Die Schulung der österreichischen Ärzteschaft für den richtigen Einsatz des Wirkstoffes erfolgte vorwiegend durch britische Wissenschafter, die vom British Council organisiert wurden. Erst ab 1949 konnte Österreich unseren Penizillinbedarf durch Eigenproduktion decken.

https://babylonberlin.eu/programm/festivals/orson-welles/988-der-dritte-mann-the-third-man

Wie in Graham Greenes Film 'Der Dritte Mann' zu sehen ist, führt der existentielle Mangel eines lebenswichtigen Wirkstoffes zu zivilgesellschaftlichen Verwerfungen, die ihrerseits die Gesundheit gefährden: Diebstahl, Fälschungen und Streckungen, Schmuggel, Bevorzugung kaufkräftiger PatientInnen statt Anwendung notfallmedizinischer Kriterien.

Die in Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie aufgetretenen Betrugsfälle mit ungeeigneten/minderwertigen Masken und Schutzkleidung zeigen hautnah auf, welche gesundheitlichen und sozialen Risken eine Auslagerung essentieller Produktionen aus Österreich/aus der EU/aus Europa mit sich bringt.

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