Strukturen und Netzwerke - Medizin und Wissenschaft in Wien 1848-1955

Van Swieten. Fotoquelle: Wikipedia
Billroth. Fotoquelle: Wikipedia

"Der Künstler [Franz Xaver Messerschmidt] inszenierte den Arzt [Gerard van Swieten] in Manier eines Herrscherbildnisses mit gehobenem Haupt und Allongeperücke, in pelzverbrämter Robe mit Orden und einer dynamischen Drehung. Damit bediente er die wichtigsten Merkmale des herrschaftlichen barocken Repräsentationsbildnisses."

Zu sehen ist die auf uns ziemlich arrogant wirkende Denkmalbüste von 1769 im Arkadenhof der Universität Wien.

Ebenfalls dort begegnet uns Theodor Billroth (1829 -1894) auf seiner Lehrkanzel, mit weißem Kittel, Skalpell und einer anatomischen Zeichnung, 1897 von Kaspar Zumbusch in Marmor geformt. Doch "die Vorlesungen an der Lehrkanzel hielt Billroth mit Sicherheit im dunklen bürgerlichen Dreiteiler. Im Kittel hingegen sah man ihn nur im OP oder Seziersaal. Dennoch wählte der Künstler für dieses Standbild just die Arbeitskleidung als gestalterisches Moment."

Durch die eingehende Analyse dieser und anderer Mediziner-Denkmäler zeigt die Kunsthistorikerin Julia Rüdiger, wie viel Wissenswertes, Erstaunliches und Erklärendes sich über die kulturellen, institutionellen und politischen Netzwerke und Strukturen aus der Betrachtung der Mediziner-Denkmäler erfahren lässt.

 

Sie ist eine der 35 AutorInnen aus unterschiedlichen Institutionen und Disziplinen, die einen Beitrag zum vorliegenden Sammelband geleistet haben. Seine 850 Seiten füllen eine wesentliche Lücke: Im Jahr 2015 feierte die Universität Wien ihr 650-Jahr-Jubiläum und 'leistete' sich eine historische Aufarbeitung ihrer Geschichte in vier Bänden. Die Medizin wurde dabei im Wesentlichen ausgelassen, denn die 1365 von Rudolf IV. gegründete Medizinische Fakultät ist seit 2004 eine eigene Universität. So entschloss sich die Arbeitsgruppe Medizingeschichte, Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften, Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), im ersten Schritt die Wiener Medizingeschichte von 1848 bis 1955 zu beleuchten. Der Nachfolgeband über die Zeit bis 2004 ist bereits in Arbeit.

 

Der Charme und die gute Lesbarkeit des Bandes liegen in der Vielfalt seiner Zugänge: So berichtet beispielsweise der Rechtswissenschafter Michael Memmer über die langwierige Institutionalisierung des ärztlichen Standes und den mühsamen Weg bis zum Entstehen der Wiener Ärztekammer als von der Universität unabhängiger Standesvertretung. Die japanische Germanistin Tomoyo Kaba zeigt anhand von vier Werken Arthur Schnitzlers, dass um 1900 die Vorstellung von Krankheit nicht nur das Denken und Verhalten der Ärzte und Kranken, sondern auch die zeitgenössische Geistesströmung ganz allgemein dominiert hat, eben auch in der Literatur. Die Historikerin Felicitas Seebacher zeichnet den politisch-ethischen Diskurs zwischen dem allgemeinen Menschenrecht auf Ausbildung und Berufswahl und dem Pochen auf ein angebliches Naturgesetz nach: "Um die Medizinische Fakultät der Universität Wien als Männerdomäne zu bewahren, beeinflussten Mediziner Wissenschaftspolitik und Gesellschaft durch antifeministische Studien." Wenn wir Heutigen uns auch manchmal wünschen, dass Regierungen und Standesvertretungen mehr auf die Meinung der Wissenschaft hören würden, so muss Seebacher recht gegeben werden, dass die Wissenschaftsgläubigkeit ebendieser Gruppen lange Zeit bewirkte, dass Medizinerinnen wegen ihrer Zugehörigkeit zum 'schwachen Geschlecht' selbst noch im 20. Jahrhundert in ihrer Karriere blockiert oder in Nischenfächer abgeschoben wurden.

 

Obwohl ein ganzer Abschnitt des Werkes speziell dem Wissenstransfer gewidmet ist, zieht sich der Blick auf die internationalen Verbindungen fast durch alle Beiträge: Von Lemberg bis Tokyo, von Java bis in die USA reichte der Einfluss der Wiener Medizin, sei es durch 'Import' oder durch 'Export': Angehörige oder Absolventen der Medizinischen Fakultät reisten, lehrten, operierten und waren begehrte Ratgeber; umgekehrt zogen Angebote der Wiener Medizin Studierende oder Wissenschafter

zu uns. Der Historiker Marcel Chahrour betitelt seinen Beitrag 'Im Mekka der Medizin - Studierende aus der arabischen Welt an der Wiener Medizinischen Fakultät 1848-1960', der Wissenschaftshistoriker Jan Surman verwendet für seine Beschreibung der Mobilität von Medizinern zwischen 1848-1914 den Begriff 'Peregrinatio', also Wanderleben. Wobei nicht ausgeklammert werden soll, dass mancher Ortswechsel die Reaktion auf handfeste akademische Eifersüchteleien, gar Mobbing, an der Universität Wien war, wie etwa beim HNO-Arzt Rudolf Bárány (1876-1936), der nach Zuerkennung des Nobelpreises von der Giftigkeit seiner Wiener Kollegenschaft genug hatte und an die Universität Uppsala übersiedelte.

 

Durch den gewählten Zeitraum des Sammelbandes liegt ein weiterer Schwerpunkt naturgemäß auf dem Aspekt Antisemitismus/Flucht/Vertreibung/Emigration/Rückkehr. Dazu gehören Beiträge über die Emigration (zukünftiger) Pflegepersonen, über Forschungspraktiken während des Nationalsozialismus, NS-Zwangsarbeit, Flucht als Chance und Problem in der Wiener Nachkriegspsychiatrie, die Nachkriegskarrieren ehemaliger jüdischer 'Krankenbehandler' oder die Fortsetzung der Psychoanalyse in der Emigration.

 

Eine besondere Fundgrube ist das gemeinsame Namensregister, das alle Beiträge inklusive ihrer Fußnoten zusammenfasst und es so der Leserin/dem Leser leichter macht, ihre/seine spezifische Neugierde zu stillen und sich plötzlich von ganz neuen Darstellungen und Informationen in den Bann ziehen zu lassen. Sei es, dass man prominente Namen wie Gustav Klimt sucht und erfährt, dass auf seine Anregung hin in den Hörsälen der Medizinischen Fakultät wissenschaftliche Vorträge für KünstlerInnen zustande kamen, oder den 19 Registereintragungen für Sigmund Freud nachgeht, Grillparzer (5 Eintragungen) oder Wiens Kulturstadtrat Viktor Matejka.

 

Als willkürlich herausgegriffenes Beispiel aus dem Namensregister sei der Unfallchirurg Lorenz Böhler (1885-1973) genannt, allgemein bekannt als Namensgeber des Unfallkrankenhauses im 20. Wiener Gemeindebezirk. Er taucht mehrfach auf: 1918 als Fortbildungsreferent im Rahmen der Waffenbrüderlichen Vereinigung, als prestigebringender Ausbildner im Rahmen der Wiener Medizinischen Akademie und schließlich im Beitrag von Katrin Pilz über seine Fotodokumentationen und Filme von Knochenbrüchen und Verletzungsfällen, die er als Kommunikationsmittel für Therapie, Lehre und Forschung einsetzt: "Böhlers Filmzirkus". Der Beitrag geht aber auch auf das politische und zeitgeschichtliche Umfeld des neuen Spezialfaches Unfallchirurgie und Böhlers persönlicher Karriere im Wien der 1920er-Jahre ein. Die Redaktion des kommunistischen und der Sozialdemokratie nahestehenden Sensationsblattes Der Abend kritisierte die Bestellung des christlich-konservativen Böhler als Ärztlichem Direktor des neugegründeten Unfallkrankenhauses der sozialdemokratisch verwalteten Arbeiterversicherungsanstalt. Darauf antwortete die Christlichsoziale Arbeiterzeitung: "Die Anstalt hat sich bei der Bestellung Dr. Böhlers einzig und allein von seinen hervorragenden Qualitäten leiten lassen. Wäre irgendein Ostjude aus Polen oder aus dem Sowjetungarn seligen Angedenkens bestellt worden, hätte es der kaiserliche Rats-Bolschewik jedenfalls in Ordnung gefunden."

 

Egal, wo man den Band aufschlägt, man liest sich fest, staunt, lernt, ist erschüttert, aufgebracht oder amüsiert, jedenfalls um neues Wissen bereichert und zu neuen Gedanken angeregt.

 

Fehlt etwas? Kurzdarstellungen der einzelnen AutorInnen wären hilfreich, um ihren Zugang zum jeweiligen Forschungsthema besser einordnen zu können.

 

Strukturen und Netzwerke - Medizin und Wissenschaft in Wien 1848-1955, Hrgg. v. D. Angetter, B. Nemec, H. Posch, C. Druml, P. Weindling, Wien: Vienna University Press 2018, 850 Seiten, ISBN 978-3-8471-0916-7, € 103 (Print) bzw. als Open Access Inhalt auf doi.org/10.14220/9783737009164.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 3/2019, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.