Leseprobe: Ohne 'Öffentlichkeit' kein Held?

Von der  deutschen Bildzeitung wird zum ‚Helden’ erklärt, wer in der 27. Minute ein Fußballtor schießt oder wer beim Triathlon Olympia-Dritter geworden ist.

 

Was macht sie aber zu ‚Helden’?

 

Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Zum einen hervorragende Leistungen in aussichtsloser Situation, zum anderen die Zeugenschaft durch ein ‚Publikum’. Durch die ständige Präsenz von Kameras besteht heutzutage daran ja kein Mangel.

 

Im fiktiven Fall, dass hervorragende Leistung in aussichtsloser Situation ohne Anwesenheit von ‚Zeugen’ erbracht wird, wäre die Anerkennung von Heldentum gefährdet. Selbst wenn es sich über schier übermenschliche Leistungen in schier unlösbarer Situation handelt – wenn es keiner ‚gesehen’ hat, gilt es nicht.

 

Während ich meine Recherchen abschließe und die letzten Seiten meines Manuskriptes schreibe, liefert mir die Tageszeitung ‚Die Welt’ noch schnell ein plakatives Beispiel für diese Behauptung: Es geht um die Berichterstattung über den Amoklauf des Psychiaters Major Nidal Malik Hasan in der US-Militäsbasis Fort Hood. Als (einzige) Heldin wurde eine Woche lang die weiße Sergeantin Kimberly Munley gefeiert, Mutter von zwei kleinen Kindern, Ausbilderin und geschult in der Überwältigungstaktik von Geiselnehmern, die „feuernd auf den Amokschützen zulief und ihn unschädlich machte, obwohl sie in jedem Oberschenkel und in einem Handgelenk getroffen war.“

 

„In Wahrheit lag Kimberly Munley verwundet am Boden und Nidal Hasan wechselte das Magazin seiner Waffe, als der schwarze Senior Sergeant Mark Todd hinzukam und ihn niederschoss.“ Er war der eigentliche Held, aber keiner hat darüber berichtet.

 

Damit Heldentum in politisch-historischem Kontext anerkannt wird, gilt die Voraussetzung der Nachweisbarkeit noch viel stärker: Daten, Fakten und Begebenheiten müssen belegt werden. Häufig fragt man sich „Wie denn?“ Wer in politischen Zwangsregimes seine fünf Sinne beinander hat, wird weder ein (unverschlüsseltes) Tagebuch führen, noch Briefe schreiben. Vieles wird niemals notiert, oder nur verschleiert, wird höchstens mündlich abgesprochen, auch durch Gesten, Blicke, Zeichen, um niemanden hellhörig zu machen, um keinen zu gefährden – vor allem nicht sich selbst.

 

Dennoch gibt es viele Dokumente, die Zeugnis ablegen könnten - falls sie denn noch existierten: Wenn sie aber zusammen mit Menschen, Häusern, Städten vernichtet und verbrannt sind, oder in alle Welten zerstreut, wie so vieles aus der NS-Zeit – gilt die Heldentat dann nichts mehr? Wenn nichts und niemand mehr Zeugnis ablegen kann, dann scheint die Heldentat nutzlos gewesen zu sein, denn sie wird auf Erden nicht gewürdigt werden.

 

Wie verhält es sich mit der ‚hervorragenden Leistung’ zugunsten anderer in aussichtsloser Situation? Wie wird sie gemessen? Im Prinzip ganz einfach: Um als ‚Held’ gewürdigt zu werden, muss der Betreffende durch seine Tat zur Rettung anderer sein eigenes Leben, seine Freiheit oder seine Sicherheit aufs Spiel gesetzt haben. Doch wie nachweisen? Unrechtsregimes haben subtile Formen, ihre Drohungen zu verbreiten. Wie sowas läuft, höre ich gerade jetzt in Interviews mit der Autorin Hertha Müller über ihre Bedrohung durch die rumänische Securitate.

 

Eine dritte Voraussetzung muss erfüllt sein, damit wir im politischen Kontext Helden als solche anerkennen: Kein wirtschaftliches Interesse durch den Retter. Darüber kann man geteilter Meinung sein; ich persönlich halte die eigene Lebensgefahr schon für so gewichtig, dass es die Tat nicht kleiner macht, wenn mit der Rettung verbundene Aufwendungen nicht vom Retter getragen werden müssen – etwa Bestechungsgelder.

 

Doch nicht nur der Begriff ‚Held’ unterliegt einer Definition, die eng begrenzt ist und daher nur eine bestimmte Selektion passieren lässt. Auch was als ‚Widerstand’ gilt, entspricht einer Übereinkunft, die  sich wandeln kann. Eine ganze Reihe von Definitionen beschreibt das Wesen von Widerstand viel besser als ich es je könnte.  Niemand wird bestreiten, dass das (gescheiterte) Attentat vom 20. Juli 1944 zur Ermordung Adolf Hitlers eine Maßnahme des Widerstandes war. Da sind wir uns einig.

 

Doch ab wann handelt es sich um Widerstand? Wie beginnt er und wie entwickelt er sich bis zu spektakulären Taten? Ähnlich wie beim ‚Heldentum’ ist auch bezüglich ‚Widerstand’ ein ‚Publikum’ erforderlich, also Zeugen oder ein Zeugnis. Wenn keiner davon weiß, ist der Widerstand nicht nach-weis(ß)-bar.

 

Beginnt Widerstand mit dem Erweisen einer vom System nicht erwünschten Gefälligkeit? Mit einer etwas größeren Portion bei der Essensausgabe, mit dem Zurückschieben einer Akte unter den Stapel neu eingegangener Post? Jeder aktiv Tätige hat seine Handlungsspielräume: Jeder an seinem Platz, jeder nach seinen Möglichkeiten, getreu dem Kindervers ‚So verschieden wir auch sind – irgendwas kann jedes Kind’.

 

Ist die passive Resistenz der nächste Schritt hin zum politischen Widerstand? Wer je mit anderen zusammengearbeitet hat, kennt ‚individuelle Entscheidungen’, ‚Missverständnisse’, ‚unterschiedliche Prioritäten’ und derlei Störungen, mit denen sich Menschen gegen die totale Vereinnahmung wehren. Wenn das Motiv dahinter aber ein anderes ist als es nach außen hin scheint?

 

Doch wenn ein Motiv dahinter steht, dann hat sich im Innersten ja schon ein Wandel vollzogen. Wie sieht der Schritt davor aus? Der britische Historiker Ian Kershaw hat sich länger und genauer mit derlei Fragen beschäftigt als ich und sagt dazu: „Die Grenzen zwischen Konflikt und Konsens waren selbst für jene Menschen fließend und fluktuierend, die schließlich zu grundlegenden Regimegegnern wurden und bereit waren, dafür mit ihrem Leben zu zahlen.“

 

Ich stoße aber nicht nur an die Grenzen der definierten Begriffe sondern auch an die der Nachweisbarkeit: In der geschichtlichen Aufarbeitung des ‚Dritten Reichs’ kommt Dr. P. nie vor. Nicht einmal zu Hause im westfälischen Eiringhausen weiß man von seinen Heldentaten. Die Deutsche Kriegsgräberfürsorge bekommt keinen einzigen Blumengruß für das Grab E/1/3071 1314 am Kopenhagener Vestre Kirkegaard. Pfeiffers Geschichte entzieht sich jeder Wahrnehmung, ist kaum zu recherchieren und die Daten seines Lebens sind fast so schwierig zu finden wie die seiner Geretteten. Die Dokumente seiner Heldentaten sind verloren, wie so viele andere Zeugnisse aus der NS-Zeit. Aufgeklärt werden kann dieses Leben nur durch Erinnerungen und Erzählungen, die noch in den Familien derer bewahrt werden, die Pfeiffer oder seiner Familie vor mehr als sechzig Jahren begegnet sind. Ein erster Bericht über ihn im ‚Süderländer Tageblatt’, das in Pfeiffers Heimatort Plettenberg erscheint, brachte bereits Hinweise. Weitere erhoffe ich mir als Reaktion auf dieses Buch.

 

Aus Mirjana Tomljenovic-Markovic’ Berichten und Drägers Geschäftskorrespondenz von, mit und über Pfeiffer kann ich eine Handvoll Details destillieren und bereits am nächsten Tag nach meinem ‚Fund’ mit der Suche starten. Gestorben ist er am 17. April 1945 im Gefängnis von Kopenhagen, letzte Büroadressen: Berlin-Charlottenburg 2, Uhlandstrasse 22/23, Tel. 91 25 92, sowie Internationale Rechtskammer, Uhlandstrasse 162, Berlin W 15. Als ersten Beleg habe ich ein Briefzitat von Oktober 1942. Darin schreibt Dr. Ernst Silten an seinen Geschäftsfreund Dr. Heinrich Dräger: „Ich habe die Fühlung zu dem Berliner Rechtsanwalt Dr. Hellmut Pfeiffer. Dieser ist ein bekannter Jurist und Präsident des Internationalen Juristenbundes. Darüber hinaus ist er sehr befreundet mit hohen Persönlichkeiten der Partei, insbesondere mit dem bisherigen Reichsjuristenführer und jetzigen General-Gouverneur von Polen Reichsminister Dr. Frank.“ Die Fakten sind nicht ganz korrekt, aber das tut nichts zu Sache.

Über den Grund der Kontaktaufnahme sagt Silten: „Herr Rechtsanwalt Dr. Hellmut Pfeiffer hat mich wissen lassen, dass er meine Abwanderung verhindern könne...“ Auf Siltens Schicksal vor diesem Hilferuf und auf die Bedeutung des Euphemismus ‚Abwanderung’ werde ich noch zu sprechen kommen.

 

Im Laufe der nächsten Monate schreibe ich hunderte Anfragen und Emails, klappere unzählige Bibliotheken, Archive und Datenbanken ab, gebe jede nur denkbare Wortkombination in jede Suchmaschine ein, stelle meine Suche in verschiedenen Historiker-Chats online und gehe jedem noch so kleinen Hinweis nach. Die Ausbeute quetscht sich in viele dicke Leitz-Ordner. Den Durchbruch habe ich nicht geschafft; aber mein Wissen über den Krieg exponentiell erweitert, tausende kleinere und größere Splitterchen gesammelt. Viel ‚geklärt’, gelesen und gelernt. Über Schicksale, Lebenswege, Zufälligkeiten, Ungerechtigkeiten und Glücksmomente. Ich besorge mir Wörterbücher, schicke meinen Freundes- und Bekanntenkreis auf die Suche nach Menschen, die polnische und dänische Dokumente für mich lesen können, bekomme viel Unterstützung, Tipps und Hilfe aus der Fachwelt, finde neue Freunde und halte meine Familie ständig mit aktuellen detektivischen Erkenntnissen oder Frustrationen in Spannung. Die Schwierigkeit ist, auf der Suche nach Helmut Pfeiffer zu bleiben, obwohl sie so unergiebig ist. Ohne mich vom Weg abbringen zu lassen, ohne in eine der vielen möglichen Parallelgeschichten abzuzweigen, die ebenfalls interessant sind und es wert wären, erzählt, gelesen und gewusst zu werden. Die Suche nach Helmut Pfeiffer ist mühselig und taugt nicht als Vorlage für einen spannenden TV-Geschichtskrimi, in dem nach eineinhalb Stunden das Rätsel gelöst sein muss, damit wir befriedigt wissen, welches die Guten sind und welches die Bösen.

 

Ich habe die letzten Wahrheiten nicht herausgefunden, aber ich kann inzwischen trotzdem so viel über ihn erzählen, dass es ihm vielleicht zu Gerechtigkeit und Ehre gereichen wird.