Susanne Krejsa MacManus

Wenn ich sechs Beine hätte

Letzten Sonntag hatte ich Besuch. So ein Hübscher!

Er hatte rotgeringelte Ober- und Unterschenkel, schwarze Knie und schwarze Füße, und das gleich sechsmal: Zwei vorne, zwei in der Mitte, zwei hinten. Gemeinsam genossen wir die Sonne; mein Besucher – oder war es eine Sie? - erkundete das Tischtuch: klettergeeignet, sowie die Plastikklammern, die es bei Wind festhalten sollten: weniger klettergeeignet. Ich sah ihm bewundernd zu, wie zierlich er seine Beine aufsetzte. Ich konnte aber keinen Rhythmus erkennen und überlegte: Wie geht man eigentlich mit sechs Beinen? Wie organisiert man sie, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern, was ja sogar uns Zweibeinern gelegentlich passiert. Das Einfachste wäre wohl, im Gleichschritt zu spazieren – links, rechts, links, rechts. Hat er aber nicht.

Um das Rätsel zu lösen, fragte ich Wikipedia: „Sechsbeinige Konstruktionen sind eine ideale Grundlage für statisch stabile Laufroboter. Sie sind damit für die Bewegung in unebenem Gelände geeignet.“ Das kann ich nur bestätigen. Mein Sonntagsgast war zwar kein Roboter, hat das unebene Gelände des Tischtuchs und der Plastikklammern aber bravourös gemeistert.

Wikipedia weiter: „Sechsbeinige Lebewesen laufen als Folgeläufer. Ein Bein folgt (in welcher Reihenfolge auch immer) dem anderen. Es werden zwei Gangarten (Reihenfolge der Beinbewegungen) unterschieden: Beim Tripod-Gang sind zu jedem Zeitpunkt drei Beine am Boden. Beim Tetrapod-Gang sind stets vier Beine am Boden (4 Standbeine, 2 Schwingbeine).“

Leider konnte ich meinen Besucher nicht mehr fragen, wie er es mit dem Gehen hält, denn als ich nach einiger Zeit von meiner Lektüre wieder aufschaute, hatte er sich davon gemacht, still, ohne ein Abschiedswort. Darüber war ich ein bisschen gekränkt.

Rot geringelte Beine sind ja schon ganz schick, aber es gibt noch Hübschere. KollegInnen tragen beispielsweise ein Outfit, das an Tiffany-Arbeiten erinnert: allerfeinste gitter- und netzartige Strukturen auf Vorderbrust und Vorderflügeln. Ich möchte meine lieben Leserinnen und Leser nicht erschrecken, aber früher oder später muss ich doch damit herausrücken: wir sprechen soeben über Wanzen. Mit Rücksicht auf Ihre empfindlichen Nerven, werde ich sie von jetzt an nur ‚W.s‘ nennen.

Weltweit sind ca. 40.000 Arten dieser Insektengruppe bekannt, ca. 3000 davon leben in Europa. Die meisten ernähren sich von Pflanzensäften und tun uns nichts. Dennoch mögen wir sie nicht, was sehr schade ist. „Selber schuld – (die W.s. nämlich)“, findet Helga Stein aus Köln und schickt mir dazu das folgende Gedicht:

Helga Stein ist eine pensionierte Heteropterologin, eine W.-forscherin. Eigentlich hatte sie es gar nicht so mit Insekten. Eines Tages kaufte sie sich eine Digitalkamera. Und dann geschah das, was in so einem Fall passiert: Man fotografiert einfach alles, was einem vor die Augen kommt. Zum Beispiel Insekten, die vor ihrem Hauseingang im Rudel Nachwuchs zeugten. Und weil man auf seine Fotos stolz ist, teilt man sie gerne. So erfuhr sie, dass es sich bei der Erotikszene vor ihrem Haus nicht um Käfer sondern um W.s. handelte. Sie wurde in einen entomologischen Arbeitskreis eingeladen, der regelmäßig in den Räumen der Kölner Uni stattfand. „Ich ging hin und war begeistert.“ Seither hat sie unzählige W.s fotografiert, online gestellt, Vorträge gehalten, Forscher mit Bildern versorgt, Interviews gegeben, und sich vor allem selbst an den spektakulären Aufnahmen erfreut.

Über das Anschauen und Zuschauen kam auch der Biologe und Filmemacher Frank Nischk auf den Geschmack: Er tauchte ein in die ‚fabelhafte Welt der fiesen Tiere‘: Und was begegnete ihm da? Fürsorgliche Schaben, tauchende Libellen und boxende Krebse. „Kakerlaken, Ameisen, Wespen, Quallen und Würmer – oft sind es die unscheinbaren, die stechenden, die vermeintlich ekligen Tierchen, die uns mit ihren faszinierenden Geschichten besonders überraschen.“ Auch für ihn war es eine Liebe auf den zweiten Blick: „Es ist einfach, Ponys und Pandas zu lieben, Kindchenschema, weiches Fell, Knopfaugen – so funktioniert Tierliebe normalerweise.“ Doch er wollte kein ‚Streichelbiologe‘ sein. Alle Geschöpfe sind wertvoll und faszinierend. Dazu zitiert er gerne aus Goethes Faust: „Der Herr der Ratten und der Mäuse / Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse …“ (Blick ins Buch hier.)

Jetzt muss ich Euch noch erzählen, wer mein sonntäglicher Besucher war: Rhynocoris annulatus nannte ihn der schwedische Naturforscher Carl von Linné im Jahre 1758. Damit kann ich leben. Dass sein/ihr deutscher Name hingegen ‚Geringelte Mordwanze‘ lautet, fand ich für meinen friedlichen Besucher nicht fair. Wer will schon mit einer Mordwanze an einem Tisch sitzen?