Warm und sauber reicht nicht: Das Personal der ÖAW

 

„Sind Zeitreisen theoretisch möglich?“, fragte vor wenigen Monaten die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Darauf folgte eine spektakuläre Erfolgsmeldung: „Ein internationales Team mit Quantenforscher/innen der ÖAW hat eine Lücke in der Physik-Theorie zu Zeitreisen geschlossen.“

 

Auf eine Zeitreise anderer Art begleiten wir Stefan Sienell, Archivar an der ÖAW: Er ‚vergrub‘ sich in die interne Geschichte der ÖAW und blickte dabei auf das Unspektakuläre: Die Akademie als Arbeitgeberin für Kanzleipersonal, Hausdiener, Portiere, Reinigungskräfte und Buchhalter. Wir erfahren, wie ihr Tagesgeschäft war, wie die Aufgabenverteilung, wie Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten waren, Dienstpläne, soziale und geografische Herkunft, politische Einstellungen, private und wirtschaftliche Lebensumstände und wie schließlich der Umgang der Akademie mit Witwen und Halbwaisen ihrer Angestellten war.

 

Dank des reichen Bestandes an Personalakten der ÖAW kann uns Sienell in vielen Details zeigen, wie die Organisation eines Wissenschaftsbetriebes funktioniert: Es geht nicht nur darum, die Räume sauber und warm zu halten, obwohl gerade auch solche Basics die ganze schöne Denkfabrik erst möglich machen. Protokolle müssen mit Akribie und Sachverstand geführt, Korrespondenzen erledigt, die Geldmittel abgerechnet werden.

 

Daher hatte die allererste Gesamtsitzung der Akademie – damals ‚Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (in Wien)‘ – am 27. November 1847 ausschließlich die Rekrutierung von Personal zum Gegenstand, und zwar eines Aktuars (von lat. actuarius ‚Schnellschreiber‘), eines „auch für Schreibgeschäfte verwendbaren“ Dieners und eines Hausknechtes (später ‚Diener‘ genannt). Erst am Tag danach konnte der wissenschaftliche Betrieb des Hauses beginnen.

 

Aus dem ‚Diener‘ wurde bald ein ‚Kanzleigehilfe‘, „da die Bedürfnisse der Akademie, wie sie sich jetzt herausstellen, es erheischen, daß der mit der erledigten Stelle Betraute einen Grad von Bildung besitze, der sich mit der Bezeichnung Diener oder Hausknecht nicht wohl verträgt.“ (S. 15) Wenige Jahre später erfolgte eine weitere Umbenennung in ‚Erster Kanzlist‘ und ‚Zweiter Kanzlist‘. Die erste weibliche Mitarbeiterin war die 16-jährige Maria Calabek, die Ende 1911 in die Akademieverwaltung eintrat. Sehr fortschrittlich erscheint uns Heutigen, dass bereits ab dem Jahr 1914 keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern hinsichtlich Besoldung, Ansprüchen, Rechten und Pflichten gemacht wurden (S. 201). Noch kurz zuvor war das anders gewesen: In der Dienst-Instruktion vom März 1898 für die Akademiediener wurden ganz selbstverständlich auch die allgemeinen Verpflichtungen ihrer Ehefrauen aufgeführt – unbesoldet. Einem kurz zuvor geschiedenen Diener wurde eine baldige Wiederverehelichung nahegelegt, damit er Unterstützung bei seiner Tätigkeit bekomme.

 

Oberhummer, Hesch, Svajda, Wibiral, Krestan und Neumann bei einer Luftschutzübung am Dach des Gebäudes (Sommer 1943)

Faszinierend lesen sich die einzelnen Biogramme, vor allem der Aktuare, weil sie auch viel über den Arbeitsmarkt, über akademische Kompetenzen und über politische Verhältnisse aussagen. So schätzte beispielsweise der Zweite Aktuar, der Physiker Dr. Arthur Haas (1884-1941), die politischen Veränderungen in Österreich richtig ein und nahm 1937 eine Professur in den USA an. Der Literaturhistoriker Dr. Viktor Junk (1875-1948), der sich vom Ersten Kanzlisten zum Ersten Aktuar hinaufgearbeitet hatte, erhielt 1926 den Titel eines a.o. Universitätsprofessors. Josef Kaller (1822-1905), Erster Aktuar, wurde 1847 nach Abschluss seines Jusstudiums und trotz umfangreicher Sprachkenntnisse „durch die damals dem vermögenslosen, absolvirten Juristen sehr ungünstigen Verhältnisse […] auf die Bahn des Pädagogen gedrängt“ und war wohl froh, 1876 endlich eine Anstellung an der ÖAW gefunden zu haben. Dr. Emil Kohl (1862-1924), Sohn eines Schneidermeisters, arbeitete als Mathematik- und Physiklehrer bevor er als Zweiter Kanzlist auf Probe in die Akademie eintrat und es bald zum Ersten Kanzlisten und schließlich zum Aktuar brachte. An der Universität Wien unterrichtete er theoretische Physik und erhielt den Rang eines a.o. Universitätsprofessors. Dr. Ludmilla Krestan (1911-1998) unterrichtete vor ihrem Eintritt in die Akademie Latein und Griechisch. Dr. Wilfrid Oberhummer (1900-1982) war Chemiker, Dr. Adolf Schmidl (1802-1863) Literat und Höhlenforscher und schrieb anspruchsvolle Reiseführer, Dr. Karl Schwarz (1869-1955) war Archäologe. Das akademische Personal konnte von den Bezügen leben; für das einfachere Personal war die Besoldung knapp, oft musste ein Nebenjob angenommen werden. Es gab gelegentlich Einmalzahlungen, etwa im Krankheitsfall, in begrenztem Umfang auch Wohnmöglichkeiten.

 

Mit wenigen Ausnahmen bestanden die Dienstverhältnisse lange, oft jahrzehntelang, in manchen Fällen folgte die nächste Generation ihren Eltern in ein Dienstverhältnis. „Die Akademie hat in dem Untersuchungszeitraum 1847-1960 ganz überwiegend als eine bemerkenswert treusorgende Arbeitgeberin agiert, die sich im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gekümmert hat.“ (S. 210) Nur selten kam es zu nachhaltigen Unstimmigkeiten, Entlassungen oder Austritten. Eine davon betraf die Kanzleiangestellte Dr. Elfriede Svoboda (1903-1995): Sie begann als Fremdsprachenkorrespondentin und studierte anschließend Anglistik. Weil sie in der Akademie keine befriedigende Anstellung erreichte, wechselte sie 1951 zur österreichischen UNESCO-Kommission. Auch der erwähnte Literat und Höhlenforscher Adolf Schmidl, Erster Aktuar, verließ die Akademie. Nach seinem Austritt schrieb er im Jahr 1860: „Die letzten Jahre in Wien war ich von meinen 40 Tyrannen in der Akademie so durch meine geistige Knechtschaft verbittert worden, daß ich [mich] wie ein Polyp in mein Kalkgehäuse zurückzog.“ (S. 293)

 

Der Autor lässt uns auch an handwerklichen Fragen teilhaben, die für diejenigen unter uns sehr nützlich sind, die sich selbst mit Familienforschung oder Regionalgeschichte befassen: Er hat Handschriften verglichen, Todesanzeigen im Netz aufgespürt, Friedhöfe besucht, beugte sich über Pfarrbücher bevor sie online zugänglich wurden und kramte in Fotobeständen. Neben den vielen wörtlichen Auszügen aus Sitzungsprotokollen und Korrespondenzen sind es auch die kleinen Facetten, mit denen er uns die Schicksale näherbringt. Beispielsweise wenn Sienell mit vielsagendem Augenzwinkern über den langjährigen Aktuar Emil Kohl schreibt: „Am 1. Dezember 1896 wurde er bei der Akademie zunächst für eine achtmonatige Probezeit als Zweiter Kanzlist angestellt; die Zufriedenheit mit Kohl muss groß gewesen sein, da er bereits nach zwei Monaten – d.h. unmittelbar vor seiner Verehelichung und dem daraus resultierenden Eintritt in verwandtschaftliche Band mit dem Vizepräsidenten der Akademie [Eduard Suess] – mit allen Ansprüchen […] aufgenommen wurde.“ (S. 254)



Stefan Sienell Das Verwaltungs- und Dienstpersonal der Akademie der Wissenschaft 1847 bis 1960 – Eine Sozialgeschichte Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2019, 362 Seiten, ISBN 978-3-7001-8425-6 (Print-Edition), € 75. ISBN 978-3-7001-8651-9 (Online Edition)

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 1/2020, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.