Barbara Kintaert: Die Odyssee von Oswald Adler (1920-1945)

 

Den meisten LeserInnen wird es gehen wie mir: NS-Zeit und Holocaust kamen in unserem Geschichtsunterricht kaum vor. Und wenn doch, dann so abstrakt, dass außer einem beschwerten Gemüt nicht viel geblieben ist. Wir konnten es uns nicht vorstellen, fühlten uns davon nicht betroffen.

 

Ganz anders, wenn man Barbara Kintaerts Buch über den Cousin ihres Schwiegervaters zur Hand nimmt: Verfasst als minutiöser Spielplan für ein Theaterstück zieht es einen ab der ersten Seite in die Geschichte von Oswald Adler hinein. Doch es ist nicht nur ein Spielplan, sondern liefert zugleich einen Bericht darüber, wie es von einer Oberstufenklasse in zwei Unterrichtsstunden gespielt wird oder gespielt werden könnte. Den Anfang macht ein Foto von Oswalds Badeausflug mit Freunden und Freundinnen, ganz ähnlich den Schnappschüssen, die wir Heutigen auf unseren Handys speichern würden. Doch es stammt aus dem Sommer 1937; da ist Oswalds und unser aller Welt noch in Ordnung. Schritt für Schritt wird sein Schicksal aufgerollt, auch das seiner Freundin und bald Ehefrau Trude, seiner Verwandten und seiner vielen SchicksalsgenossInnen während des NS-Terrors.

 

Anhand von Briefen, Fotos und ausführlich recherchierten Informationen erfahren wir – nein, erleben wir - seine Geschichte. Im Sommer 1938 erhält sein jüngerer Bruder Richard die Ausreiseerlaubnis nach Palästina / Eretz Israel, Oswald jedoch nicht, weil nur jugendliche Zionisten unter 17 Jahren ausreisen dürfen. Wenige Monate später wird er anlässlich einer Demonstration sozialistischer und kommunistischer Jugendlicher gegen die Nazis von der Gestapo festgenommen und bleibt fünf Monate in Haft. Im März 1939 landet er in Dachau, erhält die Häftlingsnummer 32694 und wird wie alle anderen Häftlinge gequält. Wir LeserInnen sind immer dabei. Nach einigen Monaten schaffen es seine Eltern, für ihn ein Ausreisevisum nach Monaco zu bekommen.

Im Juni 1939 fahren wir mit Oswald und seiner jungen Frau Trude nach Triest und versuchen zehn Monate lang, über Bengasi (Libyen) zu Richard zu gelangen. Doch von Bengasi gibt es kein Weiterkommen: „Oswald und Trude und die anderen 300 Flüchtlinge warten in Bengasi vergeblich auf ein Schiff mit Juden aus Thessaloniki, Griechenland. Gemeinsam mit diesen griechischen Juden hätten sie dann, mit deren Schiff, nach Haifa weiterreisen sollen. Aus bisher unerfindlichen Gründen ist dieses zweite Schiff nie aufgetaucht.“ (S 28)

 

Da sich Mussolini und Hitler verbündet haben, gibt es für Oswald und Trude kein Entkommen mehr. Sie werden im Juni 1940 als Gefangene in die italienische Kaserne Torelli gebracht, ein paar Wochen später in das militärische Barackenlager Palmetto, von dort zurück nach Neapel. Nach drei endlosen Wochen in den dunklen Zellen des berüchtigten neapolitanischen Gefängnisses Poggioreale kommen sie schließlich in das KZ Ferramonti. ‚Besser‘ geht es ihnen als zivile Kriegsgefangene: Lange zweieinhalb Jahre im Dorf San Donato in den Bergen zwischen Latium und den Abruzzen, voller Hoffnungen, Kummer und Enttäuschungen. Währenddessen versucht Bruder Richard immer wieder, bei den Briten eine Einreisegenehmigung für Oswald und Trude zu erhalten. Vergeblich.

Im April 1944 durchkämmen die Nazis auf ihrem Rückzug die Täler und Bergdörfer auf der Suche nach versteckten jüdischen Flüchtlingen, treiben sie aus ihren verschneiten Verstecken, sperren sie in einen Kerker in Rom, transportieren sie schließlich weiter in das KZ Fossoli di Carpi, von dort in das KZ Ausschwitz. Die nächsten Stationen von Oswalds Leidensweg sind das KZ Gross-Rosen und schließlich das KZ Flossenbürg, wo er im Alter von knapp 25 Jahren wenige Wochen vor der Befreiung stirbt.

 

Oswalds Geschichte und das Nachspielen durch eine Schulklasse wird von Kintaert sehr lebendig erzählt, berücksichtigt aber gleichzeitig, dass sowohl die SchülerInnen als auch die LeserInnen Menschen von heute sind. 60% der SchülerInnen ihrer imaginären Schulklasse sind ÖsterreicherInnen, 40% stammen aus verschiedenen anderen Ländern und bringen ihre Ansichten und Erfahrungen mit, auch ihre sozialen und gesellschaftspolitischen Konflikte. Mit ihrem Text zeigt die Autorin, dass vor allem Empathie und Deeskalation notwendig sind, um ein friedliches Zusammenleben zu erreichen und um Katastrophen wie den Holocaust in Zukunft zu verhindern.

 

Das Stück eignet sich für den Geschichtsunterricht zum Thema Holocaust und kann von interessierten Klassen nachgespielt werden bzw. es ist ebenfalls geeignet für Jugendtheatergruppen und auch für Bildungsprojekte für Jugendliche im Rahmen von Holocaust-Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern.

 

Zum Abschluss ein persönliches Wort der Rezensentin: Ich habe aus der Lektüre mehr mitnehmen können als aus meinem seinerzeitigen Geschichtsunterricht. Zeitweise lief eine Gänsehaut über meinen Rücken. Zeitweise musste ich schmunzeln, denn Schülerinnen und Schüler sind nicht immer aufmerksam, hören nicht immer andächtig zu, versuchen sich aus der Tragik zu lösen. Barbara Kintaert weiß das und zieht sie und uns doch immer wieder zurück in den Bann von Oswalds Odyssee.

 

Barbara Kintaert: Die Odyssee von Oswald Adler (1920-1945) – Theaterstück für Schülerinnen und Schüler in drei Sprachen, Wien: Praesens, Deutsch, Italienisch, Polnisch, 2019. 220 Seiten, 978-3-706910194, € 19,90. Gefördert durch: Kunstabteilung der Stadt Wien, Zukunftsfonds der Republik Österreich, Bundeskanzleramt.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 1/2021, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.