Die Spanische Grippe - Eine Geschichte der Pandemie von 1918: Harald Salfellner

Donald Trumps Großvater, der deutsch-amerikanische Restaurant- und Immobilienunternehmer Friedrich Trump, starb am 27. Mai 1918 in New York an der Spanischen Grippe. Er war eines der rund 675 000 US-amerikanischen Opfer dieser weltweit verbreiteten Krankheit. Für die Beschreibung und Erforschung der Krankheit ist sein Name nicht von Bedeutung, sehr wohl aber symbolisch für ihre Rezeption, die von Verschwörungstheorien, Fake News, Lügenpresse und Zensur geprägt ist.

 

Das beginnt schon mit der Namen der Seuche: „Durch eine Agenturmeldung, vielleicht auch durch die unbedachte Äußerung eines spanischen Gesundheitsfunktionärs, kommt Ende Mai 1918 die Bezeichnung Spanische Grippe oder Spanische Krankheit auf, die sich schließlich nicht mehr tilgen lässt." Im neutralen Spanien konnte ungehindert über die Epidemie berichtet werden, wogegen in den kriegsführenden Ländern entsprechende Zeitungsmeldungen von der Zensur unterbunden wurden.

Die Spanische Grippe mit ihren rund 50 Mio Toten weltweit ist uns aus Erzählungen der Großeltern und Eltern und aus den Geschichtsbüchern vertraut - als fernes, kaum mehr greifbares Drama der Menschheitsgeschichte, quasi eine Naturkatastrophe, vergleichbar Erdbeben, Überschwemmungen oder der Pest. Salfellner ‚belebt' die Erinnerung und bereichert unser rudimentäres Schulwissen („Der Maler Schiele und seine Frau sind an der Spanischen Grippe gestorben") durch rund 250 Abbildungen, die er in Archiven, Bibliotheken und Privatsammlungen der ganzen Welt ausgegraben hat: Akten und Zeitungsnotizen, Tagebücher, Sterbematriken, Werbeannoncen, Fotos, Karikaturen, Ausschnitte aus medizinischen Fachzeitschriften und ärztlichen Vorträgen, Gemälde, Todesanzeigen und Berichte. So macht er die Menschen hinter den anonymen Schreckenszahlen sichtbar.

 

Zahllos waren die Entstehungshypothesen der Seuche und Gerüchte wurden wohl auch gezielt verbreitet. Neben vergleichsweise harmlosen Vermutungen (etwa: bei den Frontsoldaten stauten sich pathogene Stoffe, weil sie keine Chance auf Geschlechtsverkehr hätten, oder: das Übernachten auf freiem Feld wäre gefährlich, weil der Morgentau die Krankheitserreger auf die Schlafenden fallen ließe) wurde auch der jeweilige militärische Gegner verantwortlich gemacht: So hätten die Deutschen die Grippebazillen ausgestreut oder aus Unterseebooten verseuchte Fische ausgesetzt: „Die sogenannte Spanische Grippe ist nach allem nicht spanisch, sondern deutsch, geradeso wie die meisten anderen Übel, von denen die Menschheit seit 1914 heimgesucht wurde", schrieb die New-York Tribune am 22. August 1918. Verdächtigt wurde auch die Österreichische Monarchie - in Wien dagegen zeigte man auf Russland, von wo die Influenzaseuchen oft schon ins Land gekommen sind. Andere Szenarien verorteten das Epizentrum in Westfrankreich, in Kansas/USA oder gar in Zentralasien. Auch ein frühes Beispiel von Pharmaschelte findet sich, so habe die Firma Bayer ihre Aspirintabletten mit Grippeerregern kontaminiert.

 

In 30 Kapiteln schildert der Autor, österreichischer Medizinhistoriker mit Wohnsitz Prag, den Verlauf der einzelnen Wellen, das Krankheitsbild der gefürchteten Lungenentzündung, durch die sich die Spanische Grippe von allen vorhergehenden Grippeepisoden unterschied, und das qualvolle Sterben vor allem gesunder, starker, wohlgenährter junger Zivilisten und Soldaten. „Den ganzen Globus hat das Unheil erfasst - die Küstenstädte der Neuen Welt, die Pilgerstätten Indiens, die Missionsdörfer hoch im Norden. Keine Seuche in der aufgezeichneten Geschichte hat je in so kurzer Zeit so viele Menschenleben vernichtet, wie diese sagenhafte Pandemie zwischen 1918 und 1920. Ihr Blutzoll übertrifft bei Weitem das Sterben auf den Schlachtfeldern."

 

Wie weit die Epidemie entscheidend für Verlauf und Ausgang des 1. Weltkrieges war, wird sich wohl nie beantworten lassen und Salfellner versucht es auch gar nicht. Aber er weist auf Schwächungen der Kampfkraft, militärische Propaganda, kriegsmedizinische Einschätzungen und Fehleinschätzungen sowie auf das Leiden und Sterben in Schützengräben, Militärcamps, Lazaretten und Kriegsgefangenenlagern.

 

Der Autor beschreibt auch die früheren Grippeepidemien von weit geringeren Ausmaßen, die akademischen Auseinandersetzungen zwischen Bakteriologen (Richard Pfeiffer (1858-1945) entdeckte den so genannten Influenzabazillus) und Virologen, Verhaltensweisen (Hygiene, keine Kinobesuche, Straßenbahnfahren mit Schutzmasken, kein Händeschütteln, eigenes Besteck und Trinkglas zu Restaurantbesuchen mitbringen, Vermeiden von Papiergeld, Büchern und Zeitschriften aus öffentlichen Büchereien), medikamentöse und nichtmedikamentöse Behandlungsversuche, diätetische, physikalische und naturheilkundliche Maßnahmen, zu denen auch Likör, Glühwein und Whisky und sogar Opium, Heroin und Kokain zählen. Aspirinhamster und Medikamentenfälscher machten blendende Geschäfte. Nichts davon nützte.

 

Für Österreich-Ungarn mit seinen 51,4 Mio Menschen (Volkszählung von 1910) wird die Zahl der Todesopfer auf 185.000 bis 385.000 angenommen. Salfellner schildert an vielen kleinen und großen Beispielen auch die gesellschaftlichen, öffentlichen und strukturellen Auswirkungen der Seuche hinter der Front. So mussten in Wien eigene Straßenbahngarnituren für den Leichentransport bereitgestellt werden. Aus Mangel an Medikamenten und Heilbehelfen jeglicher Art wurde in den Lazaretten Österreich-Ungarns Verbandswatte durch Holzwolle ersetzt; zwischen Prag und Wien kam es zu einer Auseinandersetzung um die letzten Aspirinbestände; der Wiener Chirurg Julius von Hochenegg und der Ärztekammerfunktionär Ludwig Stricker sprachen sich für die Requirierung von Autos aus, um den (verbliebenen) Ärzten wenigstens die allerdringendsten Hausbesuche zu ermöglichen; die Wiener Theater, Konzertlokale und Kinos wurden geschlossen, die Ernte konnte nicht eingebracht werden, der Unterricht von Volks- bis Hochschulen fiel immer wieder aus, Fabriken, Büros und Handelsfirmen mussten wegen hoher Krankenstandszahlen ihren Betrieb reduzieren oder gar einstellen, viele schlitterten in den Bankrott. Am 30. Juli 1918 wurde schließlich in Wien der galizische Biochemiker und Arzt Hofrat Ivan Horbaczewski zum ersten Gesundheitsminister des Kaiserstaates ernannt und mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten betraut. Am 10. August 1918 nahm das Ministerium für Volksgesundheit in der Gluckgasse 1 (1. Bezirk) seinen Betrieb auf.

 

Harald SALFELLNER: Die Spanische Grippe - Eine Geschichte der Pandemie von 1918. Prag: Vitalis 2018, 168 Seiten, ISBN 978-3-89919-510-1, € 24,90.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2/2019, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.