Lise Meitner – Pionierin des Atomzeitalters.

Das Wiener Bundesrealgymnasium Schottenbastei ist nach der Physikerin Lise Meitner (1878-1968) benannt, ebenso die ABC-Abwehrschule des Österreichischen Bundesheeres; mit dem Lise-Meitner-Programm werden ausländische Wissenschafter in Österreich gefördert und das chemische Element mit der Ordnungszahl 109 trägt den Namen Meitnerium (Elementsymbol Mt). Viele viele weitere nationale und internationale Institutionen schmücken sich mit ihrem Namen. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1968 erhielt sie 21 wissenschaftliche und öffentliche Auszeichnungen, Ehrenpreise, Mitgliedschaften, Medaillen und Orden. Der Nobelpreis blieb ihr jedoch versagt, obwohl sie für ihre Forschungsleistungen insgesamt 48 Mal durch Max Planck, Niels Bohr, Otto Hahn und andere berühmte Wissenschafter nominiert wurde, davon 29 Mal für den Physikpreis und 19 Mal für den Chemiepreis.

 

Im Jahr 1878 in Wien geboren muss sie sich jeden Schritt in ihrer akademischen Laufbahn mühsam erkämpfen, denn sie ist einfach zu früh: Mädchen dürfen noch kein Gymnasium besuchen, müssen sich privat auf die Externisten-Matura vorbereiten, sind erst ab 1897 an einer Universität zugelassen. Meitner beißt sich durch, studiert, schließt ihr Physikstudium Ende 1905 mit der Dissertation ab. Als sie im Jahr 1907 zur weiteren wissenschaftlichen Ausbildung nach Berlin übersiedelt, kommt sie vorm Regen in die Traufe: Frauen werden in Preußen erst 1908 zum Universitätsstudium zugelassen. So muss sie Max Planck, den Ordinarius für Theoretische Physik, erst um Erlaubnis bitten, seine Vorlesungen zu besuchen.

 

Im September 1907 lernt Meitner den Chemiker Otto Hahn kennen, mit dem sie 30 Jahre lang gemeinsam forschen und ihre großen Entdeckungen machen wird. Doch das Forscherleben wird ihr nicht leicht gemacht: Anfangs darf sie das Gebäude nur durch den Hintereingang betreten; die Vorlesungsräume und Experimentierräume der Studenten sind für sie tabu. Bis 1912 muss sie unentgeltlich arbeiten, erst da wird sie besoldete Assistentin von Max Planck – zum erste Mal „darf“ eine Frau eine solche Stelle an einer preußischen Universität innehaben.

 

1919 erhält sie als eine der ersten Frauen Deutschlands den Professorentitel, doch die Vorlesungstätigkeit bleibt ihr noch verwehrt. Die Venia legendi erlangt sie erst drei Jahre später. Über ihre Antrittsvorlesung mit dem Titel „Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse“ im Oktober 1922 werden Zeitungen berichten, doch scheint eine Frau als Physikerin so undenkbar, dass es wohl nur „kosmetische“ Prozesse sein können, über die sie da spricht. (S. 82)

Nach und nach macht sich Meitner auch unter Kollegen außerhalb Deutschlands und Österreichs einen Namen, wird zu Vorträgen, Seminaren und Vorlesungen eingeladen, korrespondiert mit wissenschaftlichen Berühmtheiten, forscht, publiziert, „lebt“ für die Physik, erlangt Weltruhm.

 

Was das Buch auch für solche LeserInnen interessant macht, die weniger an Kernphysik interessiert sind, ist die eingehende Schilderung des zunehmenden NS-Einflusses in Deutschlands Forschungs- und Wissenschaftsgeschehen. Man erlebt mit, wie sich Weltanschauungen im eigenen Umfeld verändern, wie auch enge Kollegen und verlässliche Mitarbeiter freiwillig oder gezwungenermaßen zu Opportunisten werden. Im Mai 1933 schreibt Meitner in einem Brief „Wenig erfreulich ist […] die geschäftige Tätigkeit all derer, die meinen, jetzt sei durch zur Schau gestellte ‚Gesinnungstüchtigkeit‘ ein persönlicher Vorteil zu gewinnen.“ Für die Jüdin Meitner wird es langsam eng und doch hört sie lieber auf beruhigende Worte von Freunden als auf Warnungen. Viel zu lange zögert sie mit der Ausreise, bis es beinahe zu spät ist. Am 16. Juni 1938 erfährt sie, dass „politische Bedenken gegen die Ausstellung eines Auslandspasses für Frau Professor Meitner bestehen. Es wird für unerwünscht gehalten, dass namhafte Juden aus Deutschland in das Ausland reisen, um dort als Vertreter der deutschen Wissenschaft oder gar mit ihrem Namen und ihrer Erfahrung, entsprechend ihrer inneren Einstellung, gegen Deutschland zu wirken.“ (S. 123) In einer waghalsigen Rettungsaktion holen ihre Freunde sie schließlich doch noch am 13. Juli 1938 über die Grenze nach Holland. Von dort geht es weiter nach Schweden, wo sie zwar eine Stelle erhält, aber nicht wirklich willkommen ist und unter schwierigen Forschungsbedingungen arbeiten muss.

 

Mit ihren Berliner Kollegen bleibt sie in engem Kontakt, tauscht sich vor allem mit Otto Hahn aus, der ihr von erstaunlichen neuen Ergebnissen seiner Experimente berichtet. Auf einem Spaziergang mit ihrem Neffen, dem Kernphysiker Otto Robert Frisch, kann sie die erste physikalisch-theoretische Deutung für das von Otto Hahn formulierte „Zerplatzen“ des Uran-Atomkerns entwickeln. Otto Hahn erhält im Jahre 1945 für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung den Nobelpreis für Chemie – er alleine, obwohl Lise Meitner zwei der drei entscheidenden Bausteine für die Entdeckung der Kernspaltung geliefert hatte, nämlich Versuchsaufbau und Theorie.

 

„Dank der heutigen Quellenlage ist offenkundig, dass die Nicht-Berücksichtigung Meitners weniger wissenschaftlich begründet war, denn von zahlreichen äußeren Faktoren beeinflusst worden ist. Dazu zählen etwa interne Querelen der schwedischen Physiker […]. Weiters hat sich ein Unvermögen offenbart, die transdisziplinäre Entdeckung angemessen zu evaluieren. Selbst die schlichte Tatsache, dass Meitner eine Frau ist, scheint ein Faktor gewesen zu sein […]. (S. 172) Die ausführliche Analyse der Autoren, warum Lise Meitner trotz ihrer 48 Nominierungen leer ausging, ist das zweite Highlight dieses Buches, denn derartige Einblicke in die Welt des Nobelpreises sind selten zu lesen.

1960 übersiedelte Meitner zu ihrem Neffen Otto Robert Frisch nach Cambridge, wo sie Ende 1968 verstarb.

 

567 Quellenangaben, ein Stammbaum der Familie Meitner, ausführliche Literaturhinweise sowie ein Namensregister runden das Buch der beiden Wissenschaftsredakteure der Zeitung ‚Der Standard‘ ab.

 

David Rennert, Tanja Traxler: Lise Meitner – Pionierin des Atomzeitalters

Salzburg-Wien: Residenz, 224 Seiten, 978-3-7017-3460-3, 2. Auflage 2021, € 24. Auch als E-Book.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern' 3/2021, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.