Anna Durnová: In den Händen der Ärzte - Ignaz Philipp Semmelweis - Pionier der Hygiene

In den 1960er-Jahren wurde der Terminus ‚Mehrheitsgesellschaft’ geprägt und seither in den politischen/ideologischen Diskussionen fleißig strapaziert. Die ‚Mehrheitsgesellschaft’ scheint eine homogene Masse zu sein, in die man dank ‚richtiger’ Herkunft und entsprechender frühkindlicher Sozialisation hineinwächst, bald selbst ein Bestandteil ist. Man tut, was die anderen auch tun. In der vorliegenden fotografischen Rückschau auf das vorige Jahrhundert heißt das beispielsweise: Man trägt Schnauzbart und steife Kragen, Matrosenanzug, geschnürte Taille, Perlenkette oder Dirndl. Man geht ins Kaffeehaus, spielt Theater, betreibt ein Antiquitätengeschäft oder eine Fabrik, ist Zahntechniker oder Polizist. Man fotografiert einander bei Familienausflügen oder lässt sich von einem Berufsfotografen in großer Pose ablichten. Man geht ins Konzert, fährt auf Erholungsurlaub, zieht seine Kinder groß. Alles ‚ganz normal’ und wie alle anderen.


Wären da nicht immer wieder aufflammende antisemitische Verfolgungen. Zugehörigkeit wird in ihnen nicht über Heimatland, Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen definiert, auch nicht über Tugenden wie Patriotismus, Loyalität und Tapferkeit. Diejenigen, die das Sagen haben, stecken die Grenzen schärfer ab, definieren neu oder neuerlich, wer drinnen ist und wer draußen.


Familien werden aus ihren Ländern vertrieben, docken in der Fremde bei Onkel und Tante, Großeltern oder entfernten Kusinen an oder suchen Unterschlupf bei Freunden. Dann kommt es noch schlimmer. Die Abwärtsspirale des 20. Jahrhunderts muss hier nicht dargestellt werden; sie ist bekannt.


Stattdessen soll der Blick auf die immer wieder aktuelle Frage gelenkt werden, wer oder was eigentlich die ‚Mehrheitsgesellschaft’ definiert. Gerade jetzt wird der Integrationswille von ‚Menschen mit Immigrationshintergrund’ lauthals eingefordert. Aber: Nützt es überhaupt etwas? Ein Blick auf die Fotos und Interviews dieses Buches sagt lauthals ‚Nein’. Es hat nichts genützt. Wird es in Zukunft schützen? Die Definition der ‚Mehrheitsgesellschaft’, in die man sich gefälligst zu integrieren habe, kann nach Willkür jederzeit neu gezogen werden.


‚Mehrheit’ in Bezug worauf? Wieviel Gleichartigkeit reicht aus, wieviel Abweichung akzeptiert sie gerade noch als wünschenswerten Facettenreichtum? Die Antwort darauf ist veränderlich, bildet politische und soziale Befindlichkeiten ab.


Ein Großteil der Fotos, die Tanja Eckstein und andere zusammengetragen haben, ist von den Familienbildern nichtjüdischer Menschen nicht unterscheidbar. Vergleichbare Lebensentwürfe, vergleichbare Freizeitgestaltung, vergleichbare Sozialstrukturen. Der Unterschied liegt in den Erinnerungen, die die Fotos begleiten. In ihnen wird von Flucht und Vertreibung erzählt, von Deportation und Ermordung, aber auch von einem Neubeginn oder einer Rückkehr: „The World we lost“, „Our World destroyed“ und „A World rebuilt“. Der gefährliche Begriff ‚Mehrheitsgesellschaft’ wird durch sie relativiert, demontiert. Gebt das Buch Jugendlichen zu lesen, damit sie die Gefahr begreifen!


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten ca. 180 000 Menschen in Wien, die sich selbst als Juden verstanden. Im Jahr 1945 waren es nur noch eine Handvoll und selbst heute sind es nur rund 7800. Centropa, ein Institut für Jüdische Geschichte, hat seit dem Jahr 2000 rund 100 von ihnen über ihr Leben befragt und um einen Blick in ihre Familienfotos gebeten. Etwa 22 000 Fotos konnten so gesammelt und digitalisiert werden, und – was besonders wichtig ist – die Abgebildeten wurden so weit wie möglich identifiziert. All das ist auch online suchbar.


Tanja ECKSTEIN, Edward SEROTTA: Vienna Stories: Viennese Jews remember the 20th century in words and pictures. Wien: Centropa 2013, 256 S., mehr als 200 Fotos, ISBN: 9780615902609, € 19,95. Das Buch ist zuvor auch auf Deutsch erschienen.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 1/2015, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.