Lübeck und England (2006): Mit lieben Nachbarn gibt's manchmal Zoff

Wodurch ist das 80 000-Einwohner-Städtchen Hemel Hempstead nördlich von London berühmt geworden? Falsch geraten: Nicht wegen der dortigen Dräger Medical-Niederlassung. Sondern wegen des siebenfachen Kreisverkehrs Moor End, zutreffender weise auch ‚Magic Roundabout’ genannt. 1973 erbaut, sollte diese Anlage den wachsenden Pendlerverkehr von und nach London ordnen.

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Der Anfang war hart: Zur Eröffnung wurde auf jeder der sieben Verkehrsinseln ein Polizist positioniert, um die verwirrten Fahrer zu leiten. Trotzdem schaffte es einer, mittendurch zu fahren und im River Gade zu landen, der das Roundabout queert.

 

Wer es trotz Linksverkehr und siebenfachem Roundabout geschafft hat, die richtige Straße zu finden, hat sich ein Bier verdient. Am besten so schön wie aus der Fernsehwerbung: prickelnd kühl, feine Bläschen steigen auf und verschwinden im schneeweißen, feinporigen Schaum, der das geschwungene Bierglas als perfektes Häubchen krönt....  Weit gefehlt: Eine derartige Stärkung erwartet den Englandreisenden eher nicht. Stattdessen wird ein großes Zahnputzglas serviert - a pint (ein halber Liter) oder half a pint (Viertelliter), randvoll gefüllt mit einem eher wärmlichen gelben Getränk, das für Unsereins gewöhnungsbedürftig schmeckt. Zu allem Überfluß fehlt das Schaumhäubchen, ohne das das Biervergnügen nur ein halbes ist. Erstaunlicherweise trinken die Engländer trotzdem kaum weniger Bier als die Deutschen, mehr als 100 Liter pro Jahr und Kehle. Ihnen den beklagenswerten Mangel ihres Bieres auseinander zu setzen ist müßig, denn sie sind uneinsichtig. Im Gegenteil, Gastwirte in Deutschland und anderen Ländern mit ‚richtigem’ Bier erzählen, dass englische Gäste das frisch Gezapfte empört zurückschicken und sich betrogen fühlen: „Merke: Das hohe weiße Schaumhäubchen auf dem Bier ist kein Grund zur Reklamation sondern vielmehr der Stolz des Wirtes!“ so steht es daher in Reiseführern zu lesen, mit deren Hilfe Engländer den Kontinent erkunden.

 

Lübeck ist nicht nur durch eine ausgezeichnete Luftverbindung mit England eng verbunden – dank des Flughafens Blankensee nahe und dank Ryanair billig – sondern auch durch die Geschichte. Wie bei allen lieben Nachbarn gab’s Zoff: Englische Kaufleute machten sich im Ostseeraum breit, die Händler der Hansestädte hatten es wiederum auf englische Tuche und Metallwaren abgesehen. Um sie klein zu halten, wurde ihr Londoner Kontor von der englischen Krone nach Kräften behindert. Ein Seekrieg war die Folge. Der Frieden von Utrecht brachte 1474 für die Hansestädte unter der Verhandlungsführung des Lübecker Bürgermeisters Hinrich Castorp einen günstigen Abschluss. Noch bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648 ) war die Lübecker Flotte größer als die Englands, nur die Niederländer besaßen mehr Schiffe.

 

Die englischen Tuche zählen für die Herren noch immer zum allerfeinsten; Damen verbinden einen Englandausflug eher mit dem Einkauf knapper Kleidchen und knackiger Dessous. Hier kann es schwierig werden: Auch wer die unterschiedlichen Kleider- und Schuhgrössen mit Bravour bewältigt hat, scheitert leicht bei sexy Tangas. Man möchte meinen, das Vokabel ‚Tanga’ wäre ein international gebräuchlicher Terminus. Das mag für den Rest der Welt stimmen, aber in England heissen diese reizvollen Nichtigkeiten ‚Thongs’. Und vollends knifflig wird es, wenn man sich eine Modefarbe in den Kopf setzt. Denn das eingedeutsche ‚Pink’ heißt auf Englisch ‚Magenta’, während das deutsche ‚Rosa’ im Englischen ‚Pink’ genannt wird.


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Wenn es dann ans Zahlen geht, ist England nicht nur teuer sondern auch kompliziert, denn obwohl Mitglied der EU, hat die Insel den Euro nicht eingeführt. Also plagt man sich mit der Umrechnung zum englischen Pfund. Aber wenigstens herrscht in Englands Währung seit 1971 ebenfalls das Dezimalsystem, so dass 1 Pfund in 100 Pence geteilt wird. Davor musste man Rechenaufgaben im Kopf lösen, gegen die jedes Sudoku ein Kinderspiel ist: 1 Pfund teilte sich in 20 Shilling zu 12 Pence, aber das bleibt uns ja nun erspart. Doch scheinen die Engländer diesem Training ihre heutigen Erfolge im Umgang mit dem kniffligen Zahlenrätsel zu verdanken. Tatsächlich führte der atemberaubende Boom auf der Insel bereits zum Begriff ‚Sudoku-Widow’ – also Sudoku-Witwe – für die Lebenspartner besessener Spieler, die einfach nicht davon nicht mehr ablassen können. Inzwischen hat das Sudoku ja auch bereits Deutschland erobert.

 

Das Pfund hat sich also dem Rest der Welt angepasst; ob auch der Linksverkehr eines Tages der besseren Einsicht folgen wird, ist offen. Engländer verteidigen ihr System mit der Behauptung, die meisten Menschen würden mit dem rechten Auge besser sehen als mit dem linken. Das klingt zwar sehr überzeugend, scheint sich aber neben Großbritannien nur auf wenige Länder zu beziehen, etwa Lesotho, Brunei, Zypern und Fiji – während in den meisten anderen Staaten (inklusive Schottland) die Augen der Verkehrsteilnehmer offenbar genau gegensätzlich gebaut sind.

 

Das Bier und der Straßenverkehr sind nur zwei der drei wichtigsten Unterschiede zwischen den Nachbarn. Der dritte ist mindestens so wichtig und heißt Backblech: Backblech zum Backen von Plätzchen oder Blechkuchen. Wer Freunde in England besucht und dort mit ofenwarmem Selbstgebackenem punkten will, scheitert kläglich. Im durchschnittlichen englischen Backofen gibt’s kein Backblech! Das ist plausibel, denn für Kuchen in Formen und Förmchen reicht ein Gitterrost. Aber wenn man mit fertigem Teig angereist ist (zu Hause vorfabriziert, damit alle Ingredienzien stimmen), dann neigt man weniger zu Plausibilitätsuntersuchungen als vielmehr zu Panik. Wer hartnäckig genug nach dem ‚baking tray’ fragt, bekommt dann wenigstens ein oder zwei kleine Metalltassen – jede etwa ein Viertel so groß wie ein anständiges deutsches Backblech, auf denen sich im schweißtreibenden Schichtbetrieb dann doch noch die versprochenen Plätzchen materialisieren lassen.

 

Während die Plätzchen backen und die Verzweiflung abebbt, geht man zur Beruhigung auf die Toilette - ‚the loo’ – wenn man denn reinfindet. Denn der Lichtschalter ist nirgends zu sehen. Englands Feuerpolizei ist streng und meint es gut, daher sind elektrische Installationen in Toiletten und Bädern besonders gesichert: Von der Decke hängt eine weiße Schnur mit einem Griff herab. Bitte ziehen – dann geht das Licht an.


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Damit ist das Abenteuer noch nicht zuende. In der Regel verbrüht man sich beim Händewaschen, denn Kaltwasserhahn und Heißwasserhahn sind räumlich getrennt und nur nach langjähriger Übung lässt sich damit eine zukömmliche Wassertemperatur erzielen.


Aber man muß ja froh sein, dass es überhaupt noch fließt, denn die Insel trocknet aus. London hat weniger Regen als Rom, Dallas und Istanbul. Bewässerungsanlagen für den Garten und Autowaschen mit dem Schlauch sind verboten und in Aufklärungsprogrammen für Jung und Alt wird vorgerechnet, wie viel Wasser man beim Duschen und Zähneputzen sparen kann. Londons Bürgermeister Ken Livingstone hat sogar aufgehört, nach dem Urinieren die Klospülung zu betätigen. Ein Drittel des Trinkwassers gehe die Toilette hinunter - "wenn wir so weitermachen, hat London bald kein Wasser mehr". Seinen Mitbürgern riet er, es stattdessen den professionellen Gärtnern gleichzutun: "Viele Gärtner pinkeln in einen Eimer und nutzen den Urin als Dünger. Die Pflanzenwurzeln lieben es."

 

Jetzt wissen wir endlich, warum der berühmte englische Rasen so grün ist.