Lübeck und Wien: Große Gegensätze ziehen sich an (2006)

 

Wenn Wolfgang Schüssel, österreichischer Bundeskanzler und derzeitiger EU-Ratspräsident, eine Pause braucht, dann hat er’s gut: Die teppichbelegten Treppen seines Amtssitzes hinunter und ein paar Schritte gegangen – eine Handvoll traditionsreicher Wiener Kaffeehäuser wie ‚Das Griensteidl’, ‚Das Landtmann’, ‚Der Demel’ oder ‚Das Central’ bieten ihm Entspannung.

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Und ist die ‚Melange’ oder der ‚kleine Braune’ ausgetrunken, kann er noch stundenlang beim mitgelieferten Glas Wasser alle aufliegenden Zeitungen lesen oder die anderen Gäste beobachten, ohne dass ihm der ‚Herr Ober’ bedeutet, der Tisch würde gebraucht. Jeder darf sitzen bleiben, so lange er möchte; Wasser gibt’s gratis und ohne Aufforderung nach.

 

Zurück zu Wolfgang Schüssels Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz. Es ist auch für Lübecks Geschichte von Bedeutung: 1815 wurde Lübeck hier beim ‚Wiener Kongreß’ zur politischen Neuordnung Europas wieder selbständiges Staatsgebiet.

 

Doch abgesehen von ein paar historischen Berührungen könnten die Gegensätze zwischen Lübeck und Österreichs Metropole größer nicht sein – spannend, lehrreich und bereichernd bei einem touristischen Kurzbesuch.

 

Wer aber aus beruflichen oder privaten Gründen stetig zwischen diesen beiden Städten pendelt, macht eine Reihe interessanter Beobachtungen: Ganz konträr zu Lübecks kaufmännisch geprägter Architektur ist Wiens Stadtbild durch barocke und klassizistische Adelspaläste bestimmt, die heute als Verwaltungs- und Repräsentationsgebäude der Republik genützt werden. So residiert Österreichs Finanzminister, Sunnyboy Karl-Heinz Grasser, im ehemaligen Winterpalais des Prinzen Eugen von Savoyen, in den Türkenkriegen Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres. Dennoch wäre es ganz unangebracht, beim Betreten in höfische Manieren zu verfallen. Ein freundliches ‚Grüß Gott’ reicht völlig, mit ‚Servus’ sollte man sich hingegen als Ausländer tunlichst zurückhalten, denn es setzt befreundete Nähe und das Du voraus. Ein joviales ‚Moin-Moin’ wäre für Wiener wenigstens nur unverständlich, auf ein norddeutsch-strammes ‚Tach’ reagieren sie hingegen schnell gereizt. Wer seine basisdemokratische Gesinnung hervorkehren will, kann es mit einem schulterklopfenden ‚Grüß-Sie’ versuchen, was aber von Angehörigen des gehobenen Bürgertums nicht wirklich goutiert wird. Richtig freuen kann sich, wer von Wiener Freunden mit einem liebevollen ‚Baba’ verabschiedet wird – dieser familiäre Gruß signalisiert große Zusammengehörigkeit.

 

Wiener sind im Übrigen gekränkt, wenn man ihren weichen Akzent als Dialekt bezeichnet und verweisen gerne darauf, dass die Bühnensprache des Wiener Burgtheaters – das so genannte Burgtheaterdeutsch – als das gehobenste Deutsch des gesamten Sprachraumes galt.

 

Das Wiener Arsenal. Foto: flickr.com

Wer Heimweh nach Backsteingebäuden hat, muß in Wien nicht ganz verzweifeln. Der ehemalige militärische Gebäudekomplex ‚Arsenal’ nahe dem Wiener Südbahnhof besteht ganz aus Sichtziegeln;  damit sind alle Ähnlichkeiten zu Lübecks strenger Architektur allerdings bereits erschöpft, denn aus dem Material entstanden nicht geometrische Treppengiebel sondern schwülstig-exotische byzantinisch-islamische Formen. Den größten Gegensatz zwischen den beiden Städten stellen wohl die Kirchen dar. Wer das luftige weiße Innere von Lübecks Kirchen liebgewonnen hat, findet Wiens Stephansdom und die vielen anderen Gotteshäuser atemberaubend dunkel oder sogar erdrückend düster.

 

‚Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen’ ist eine tiefempfundene österreichische Volksweisheit, der man sich als Wienbesucher gerne anschließt. Wer zu den wirklichen Highlights vordringen will, muß allerdings einen kleinen Sprachkurs absolvieren, denn fast alles heißt anders als man denkt: Tafelspitz, Blunzn, Marillen, Fisolen, Palatschinken, Powidltascherl oder Gsöchts (Geselchtes) sind nur ein paar der vielversprechenden Namen.

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Profis, die schon öfter da waren, laben sich sogar an einer ‚Eitrigen’ (gegrillte Käsewurst) mit einer ‚Sechzehnerhülsen’ (lokales Ottakringer-Bier). Wiener sind stolz auf ihr Bier, noch mehr aber auf ihren Wein, der auf den lieblichen Weinbergen an den Rändern der Zweimillionenstadt wächst. 330 Weinbauern produzieren pro Jahr 2 bis 2,5 Millionen Liter Wein. Die ausgezeichneten öffentlichen Verkehrsmittel (Schnellbahn, U-Bahn, Strassenbahn und Bus) bringen Einheimische und Touristen zu den ‚Buschenschanken’ und ‚Heurigen’ in Grinzing und Sievering. Wer sich dort auch nach ein paar Achterln noch manierlich aufführt statt den Ösis den ‚Anschluß’ schmackhaft machen zu wollen, hört vielleicht dankbare Familienerinnerungen an Wiener Kinder, die in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg zum Auffüttern in Nachbarländer verschickt wurden und auch in Lübeck freundliche Aufnahme fanden.

 

Ähnlich wie die Lübecker Altstadtinsel gibt’s auch in Wien eine Insel, eigentlich sogar zwei: Ganz im Zentrum liegt die Leopoldstadt zwischen Donau und Donaukanal. Wegen ihrer jüdischen Enklave hieß sie früher auch ‚Mazzesinsel’. Und im – eher unansehnlichen und gar nicht blauen - Donaustrom selbst liegt die erst 1988 geschaffene Donauinsel – ein großartiges Freizeit- und Erholungsgebiet. Der namensgebende Fluß Wien ist hingegen ein staubiges kleines Rinnsal in scheinbar überdimensionierten Kanälen, dessen zerstörerische Kraft nur zur Zeit der Schneeschmelze zu erahnen ist. Und dann gibt’s noch das ‚Meer der Wiener’. Es heißt ‚Neusiedlersee’ und liegt etwa 60 Kilometer südöstlich der Stadt.

 

Was für die Lübecker das Meer ist sind für die Wiener die Berge. Die Stadt ist von einem hügeligen Grüngürtel riesigen Ausmaßes (Wienerwald) umgeben, in dem man tagelang wandern kann. Die nördlichen Hausberge Kahlenberg, Leopoldsberg und Cobenzl erlauben einen wunderbaren Blick über die Stadt. Und schließlich locken in nur 90 Kilometer Entfernung Wiens Zweitausender Schneeberg und Rax. Von dort wird Wiens gutes Trinkwasser in die Stadt geleitet.


Marienkirche, Lübeck. Foto: flickr.com

Wer sich mit Wienern angefreundet hat und sie zu einem Gegenbesuch nach Lübeck einlädt, um sie mit Marzipan, Grünkohl und Rotspohn zu verwöhnen, muß nicht lange warten. Die Ostsee gilt in Österreich als aufregend-exotische Destination. Ein Ferienaufenthalt in Sierksdorf ist einladender als ein Ausflug auf die Malediven. Warum dennoch nicht mehr Wiener den Weg herauf finden? Es ist ihnen emotional zu kühl. In Wien wird umarmt, geherzt und geküsst (auf beide Wangen!) und daran müssen sich die Mädels und Jungs von der Waterkant wohl noch gewöhnen.

 

Erschienen in Dialog - Mitarbeiterzeitung der Dräger-Gruppe, 4/2006