Rolf-Peter Lacher: „Der Mensch ist eine Bestie“. Anna Heeger, Maria Chlum, Maria Reinhard und Arthur Schnitzler

Stefan Zweig lobte Arthur Schnitzlers ‚wunderbar warmen und teilnehmenden Blick’: „Ein unvergesslicher Blick war das, ein ruhender und einhüllender; ganz und sicher fühlte man sich darin geborgen, wie zu einem Arzt sprach man vertraulich zu ihm, und genauso hörte er zu.“[1]Aber der Blick konnte auch anders sein, nämlich „scharf und diagnostisch wach, wenn er beobachtete.“.


Folgt man Rolf-Peter Lachers Buch ‚Der Mensch ist eine Bestie’, dann beobachtete Schnitzler seine unzähligen Geliebten wohl mehr mit seinem ‚scharfen und diagnostischen’ als mit seinem ‚wunderbar warmen und teilnehmenden’ Blick. Lacher hat mehrere hundert Briefe an Schnitzler sowie dessen zugehörige Tagebucheintragungen aus dem Marbacher Literaturarchiv ausgewertet: „Es geht ... darum, wie er dreien seiner Geliebten begegnet ist, und vor allem darum, wie Anna Heeger, Maria Chlum und Maria Reinhard das Liebesverhältnis empfunden haben.“ (S7) Sein Resumee ist erschreckend: Schnitzler hat seine Frauen schlecht behandelt und anschließend ihr Leid literarisch verarbeitet. „Schnitzlers Verhaltensweisen wiederholen sich  ..., ob es nun die ewig gleichen Vorwürfe sind, mir denen er die Frauen unter Druck setzt, oder das Beharren auf dem einen Thema vom ersten Drama bis zur letzten Erzählung.“ (S7)


Mit Anna Heeger (1865-1903) war Schnitzler von 1887-1890 bzw. 1898 liiert. „Über Annas Beweggründe, dieses Liebesverhältnis einzugehen und daran festzuhalten, kann man nur Vermutungen anstellen, - von Seiten Schnitzlers bestand es von Anfang an in einer Lüge. Kaum dass es begonnen hat, setzt er dem Verhältnis vorbeugend eine Ende, indem er sich vorstellt, „...es wird mal was hübsches zum Erinnern sein.“ (Tgb. 19. 10. 1887) Damit bewahrt er sich seine Freiheit. Er geht keine Bindung ein und kann deswegen Anna einem Experiment unterziehen und sie dabei beobachten, wie sie sich mit dem Widerspruch abmüht: er behauptet, er liebe sie, und quält und demütigt sie andererseits durch den Verdacht, sie sei immer nur darauf aus, ihn zu betrügen. Er beobachtet auch sich selbst. Zwar klagt er, er stehe nicht so frei da, als er wolle. Aber so etwas müsse man erlebt haben (Tgb. 4. 2. 1888). (S17)


Ein ‚Sexmaniac’, ‚Casanova’ oder ‚Liebesschuft’ zu sein ist zwar unehrenhaft und verwerflich, doch ist ein derartiges Verhalten nicht auf Schnitzler beschränkt. Auch die Tatsache, dass Schnitzler sich mit Anna Heeger ein schwaches Opfer ausgesucht hat, ist nicht außergewöhnlich: Anna „scheint in der Tat seelisch krank gewesen zu sein. Das war jedem, der mit ihr zu tun hatte, offenkundig. Die psychische Erkrankung hat es Schnitzler einfach gemacht, Anna an sich zu binden, sie sexuell auszubeuten und zu manipulieren.“ (S43)


„Eine weitere jener Frauen, die in einem pervertierten Schwank der Liebe eine Hauptrolle bekommen, ist Maria Chlum, die sich später den Bühnennamen Marie Glümer gibt.“ Auch das Verhältnis zu ihr von 1889 bis zu ihrem Selbstmord folgt dem Schema, das Schnitzler in einigen seiner Bühnenstücke aufgreift: „ ... der reiche junge Herr, der die armen, sozial weit unter ihm stehenden Mädchen mit seinen Liebesbeteuerungen ‚übertölpelt’.“ (S47) Im Nachruf wird die ‚Neue Freie Presse’ schreiben, Maria Chlum habe „als das Vorbild für Mitzi Schlager in Arthur Schnitzlers ‚Liebelei’ und des süßen Mädchens in der Anatolszene gegolten, ...“. (S148)

„Es stellt sich die Frage, in welchem Umfang Schnitzler dieses Verhältnis in der Absicht inszeniert hat, Stoff für ein Schauspiel zu erhalten. ... die Einträge in sein Tagebuch, die in unendlichen Wiederholungen darstellen, wie sehr er unter Maria Chlums ‚Vergangenheit’ leide, lassen vermuten, dass er diese ‚Qualen’ und ‚Leiden’ gespielt hat, dass er auch Maria Chlum einem psychologischen Experiment unterzogen hat, um zu sehen, wie sie reagiert.“ (S62) Er selbst notiert bei ihrem Tod: „ ... keinem Wesen verdankt mein Dichtertum so viel wie ihr (Tgb. 18. 11. 1925).“ (S145)


Quelle: Rolf-Peter Lacher/Deutsches Literaturarchiv Marbach

Das tragische Ende von Schnitzlers Geliebter Maria Theresia Reinhard (1871-1899) lässt sich indirekt ebenfalls in Schnitzlers Werken nachlesen, wie Rolf-Peter Lacher zeigt: Sowohl in seinem Bühnenstück ‚Professor Bernhardi’ (1912) als auch in seiner Erzählung ‚Frau Berta Garlan’ (1900) befasst Schnitzler sich mit dem Tod nach einer verpfuschten Abtreibung. Maria Reinhard kommt 1894 als Patientin zu Schnitzler, der zu dieser Zeit noch seine HNO-Praxis führt. Sie ist Sängerin und Gesangslehrerin und hat Stimmprobleme. „Sie ist keine jener Frauen, die man im Handumdrehen haben kann“, charakterisiert Schnitzlers Biographin Renate Wagner in ihrem Standardwerk von 1981 die junge Frau. „Von Rechts wegen ‚bekommt’ man eine Marie Reinhard nur, wenn man sie heiratet.“ Schnitzler gelingt es trotzdem, sie zu verführen; vier Jahre lang ist sie eine seiner Liebhaberinnen, bringt unter demütigenden Umständen ein (totes) Kind zur Welt, wartet und hofft, dass er sie heiratet.


Gruppe 71B Reihe 20 Nr. 68

Im Februar 1899 gibt es laut seinem Tagebuch „wieder neue Sorgen“: Marie ist also abermals schwanger und verstimmt, weil er das Heiraten „auf die lange Bank schiebe“. Am 13., 14. und 15. März sind sie noch zusammen, am 16. ist sie krank, am 17. „sehr krank“, ein Gynäkologe sowie Schnitzlers Bruder, ebenfalls Arzt, sind bei ihr. Am nächsten Tag ist sie tot: An ‚Bauchfellentzündung’ sei sie gestorben. „Maria Reinhard ist in der elterlichen Wohnung gestorben; sie wurde nicht in das nahe gelegene Allgemeine Krankenhaus gebracht. Denn einerseits konnte ihr bei einer Bauchfellentzündung, die auf eine Abtreibung zurückging, ohnehin ein Arzt kaum mehr helfen, und der Familie wurde die Anzeige erspart. Der Arzt, der die Totenschau vornahm, konnte ähnlich wie der alte Arzt in ‚Frau Berta Garlan’ darauf verzichten, das Unglück der Familie noch zu verschlimmern, indem er auf dem Beschauzettel die Ursache der Sepsis bzw. Bauchfellentzündung angab. Sonst hätte die Familie auch noch gerichtliche Ermittlungen und damit die öffentliche Bloßstellung gewärtigen müssen.“ (S239) Begraben wurde Maria Reinhard am Wiener Zentralfriedhof.


Lachers Buch ist das Buch eines Empörten: Empört darüber, dass die Mädchen, die sich unglücklicherweise in Schnitzler verliebten und von ihm literarisch (und sexuell) benützt wurden, auch von der Nachwelt vergessen, ja geradezu missachtet werden, während aller Augen auf dem großen Schriftsteller ruhen. Sie bezahlten bitter für seinen Ruhm. Trotz seiner Empörung bleibt Lacher im Ton gemäßigt, versucht vielmehr mit der Fülle an Fakten zu überzeugen. Eine feministisch geprägte Bewertung von Schnitzlers Verhalten würde deutlich schärfer ausfallen.

 

Die Fülle an Fakten, besser gesagt die Unübersichtlichkeit der Fakten, ist allerdings der Schwachpunkt des Buches. Lacher hat sich die unendliche Mühe gemacht, all diese Briefe und Tagebucheintragungen zu lesen, gegenüberzustellen, zu interpretieren, auch genealogische Informationen einzuholen und weitere Recherchen anzustellen, um alles zusammen als Narrativ zu präsentieren. Diese Fülle macht es dem Leser nicht leicht. Man hätte dem Buch einen klarsichtigen Lektor gewünscht, der Orientierungslinien einzieht und den ‚Arbeitsleser’ mit Nachschlagehilfen versorgt: Zeittafeln, Index, typografische Strukturen etc. gehen über das Handwerk eines Autors hinaus und hätten dem Buch gut getan.


Rolf-Peter LACHER: „Der Mensch ist eine Bestie“. Anna Heeger, Maria Chlum, Maria Reinhard und Arthur Schnitzler

Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, 250 S., 9 Abb., ISBN: 978-3-8260-5396-2, € 36,00


Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2014, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.


[1] Stefan Zweig, Erinnerungen an Arthur Schnitzler, 1931