Ignaz Philipp Semmelweis - Pionier der Hygiene

In mehreren Spielfilmen liest sich das Schicksal von Semmelweis wie folgt: Der ‚Retter der Mütter’ wurde von missgünstigen Kollegen aus Wien vertrieben und endete schließlich im Irrenhaus. Erst nach seinem Tod wurde bewiesen, dass der ‚Apostel des Händewaschens’ völlig recht gehabt hatte. Heute gilt er als Nationalheld und ‚Säulenheiliger’ der Medizin.

 

Durch eine völlig neue Brille, nämlich die der Sozialwissenschaften, beleuchtet Anna Durnová den ‚Fall Semmelweis’. An seinem Beispiel analysiert sie, wie sich wissenschaftliche Kontroversen entwickeln und welche Rolle Emotionen dabei spielen.

 

Zuerst die historischen Fakten: Im Jahr 1810 wurde das Curriculum für Medizinstudenten am Wiener Allgemeinen Krankenhaus um Übungen an Leichen erweitert. Der damalige Vorstand der Gebärklinik Johann Lukas Boer (1751-1835) hielt sich jedoch nicht daran, sondern ließ die Übungen weiterhin nur am Phantom ausführen. Anders sein Nachfolger Johann Klein (1788-1856); nach einer großzügigen Erweiterung war die Gebärklinik nun mit ca. 6000 Geburten pro Jahr Europas größte derartige Institution. Daher teilte Klein die Klinik: Eine Abteilung diente der Ausbildung der Ärzte, die andere den Hebammen. Klein behielt die Leitung der Ärzteabteilung und führte nun das Praktikum der Geburtshilfe auch an der Leiche ein. „Ganz im Sinne des damaligen medizinischen Wiener Zeitgeistes sollten auch Geburtshelfer durch die systematische Untersuchung der Leichen zu einer besseren Erkenntnis der Prozesse und Komplikationen bei der Geburt kommen.“ (S.26) Plötzlich starben jedoch an dieser Abteilung pro Jahr 600 bis 800 Frauen am Kindbettfieber, somit war der Prozentsatz von 0,84 Prozent bei seiner Amtsübernahme auf rund 11,4 Prozent angestiegen. In der Hebammen-Abteilung lag die Quote dagegen nur bei 2,79 Prozent.

 

Der Tod im Kindbett war nicht auf die Wiener Klinik beschränkt. „In Paris zirkulierte etwa das Gerede, dass derzeit in Europa drei lebendige Gräber vorzufinden seien: Findelhäuser, Kinderspitäler und Geburtskliniken.“ (S. 145) Überall waren die Ärzte erschüttert, entsetzt - aber ratlos. Akzeptierte Erklärungsmodelle lauteten:

1. Schlechte Luft und Ausdünstungen sind die Ursache (Miasmentheorie). „Das war nach den damaligen Lehren ein kosmisch-tellurischer Zustand der Luft, der ... bestimmte Luftbedingungen umfasste und auch Krankheitserreger ansammeln konnte.“ (S.29)

2. Es handelt sich um eine gelegentlich auftretende Epidemie und ist daher von Ärzten unbeeinflussbar.

3. Es handelt sich um eine Frauenkrankheit. Etwa aufgrund einer Milchstauung, durch die sich Muttermilch zu Eiter zersetzt. Oder durch Spannungen aufgrund schwerer körperlicher Arbeit während der Schwangerschaft oder anderer physische oder psychische Anstrengungen, denen die vorwiegend mittellosen Frauen ausgesetzt waren.

 

Ignaz Philipp Semmelweis trat am 1.Juli 1846 als Assistent in die Klinik ein. Zur täglichen Praxis gehörte es, die am Vortag verstorbenen Patientinnen zu obduzieren. Mit den allgemein herrschenden Erklärungen über die Ursachen des Kindbettfiebers war er nicht zufrieden. So begann er, die Abläufe der beiden Klinikabteilungen detailliert miteinander zu vergleichen: Ernährung, Gebärstellung, sogar den Weg, den der Priester mit seiner Totenglocke zu gehen hatte. Er war nicht der einzige Zweifler: Im Herbst 1846 wurde eine Untersuchungskommission aus Ministerialbeamten gebildet, die aber auch nichts Neues erbrachte. Im nächsten Schritt verbannte man die ausländischen Studenten von den Untersuchungen, denn „insbesondere die aus dem Balkan stammenden oder gar die Araber, die auch ab und zu in Wien Medizin studierten, könnten aufgrund ihrer Kultur nicht sanft genug vorgehen und dies würde zu einer Körperanspannung der Frauen führen.“ (S.33) Tatsächlich stellten diese Studenten eine höhere Ansteckungsgefahr dar, denn sie studierten oft nur wenige Monate in Wien, hatten also nicht viel Zeit. Um möglichst viel zu lernen, waren sie besonders fleißig. So wechselten sie häufig zwischen der Geburtsabteilung und dem Leichensaal.


Im Frühjahr 1847 trafen zwei Ereignisse zusammen und brachten damit Semmelweis’ Ursachenforschung auf den richtigen Weg: Von einer Reise zurückgekehrt erfuhr er, dass sein Freund, der Gerichtsmediziner Jakob Kolletschka (1805-1847), verstorben war. Zum anderen stellte Semmelweis fest, dass die Zahl der Todesfälle am Kindbettfieber während seiner Reise gesunken war aber seit seiner Rückkehr wieder anstieg.

Beim Obduzieren war Leichengift in eine offene Fingerwunde Kolletschkas eingedrungen und hatte ihn in kürzester Zeit dahingerafft. Sein Obduktionsprotokoll beschrieb genau dieselben Symptome, an denen auch die Frauen im Kindbett starben. So war die Theorie der geschlechtsspezifischen Ursache hinfällig geworden.

Jetzt erkannte Semmelweis, dass die Ärzte – auch er selbst – Überträger der Krankheit waren. „Je eindeutiger aber das Ergebnis war, desto schmerzlicher wurde es für ihn selbst: ‚Nur Gott weiß die genaue Anzahl der unschuldigen Frauen, die durch meine Hände den Tod fanden.’“ (S.39)

 

Bakterien waren zu dieser Zeit ‚noch nicht erfunden’; so konnte das Leichengift noch nicht genauer beschrieben werden als anhand des Geruches, der auch nach mehrmaligem Waschen der Hände mit Seife nicht verschwand. Bei der Suche nach besseren Möglichkeiten stieß Semmelweis auf Chlor, das zum Bleichen von Bettwäsche verwendet wurde. Im Mai 1847 stellte er in seiner Abteilung Waschschüsseln mit einer Chlorkalklösung auf, in der jeder Arzt vor einer Untersuchung seine Hände gründlich waschen und bürsten musste. Im Juni lag die Sterblichkeitsrate nur mehr bei 2,38 Prozent und sank weiter.


Anna Durnová untersucht, warum Semmelweis’ Erkenntnis trotz dieses eindeutigen Erfolges zum Gegenstand großer und andauernder Auseinandersetzungen wurde. Sie zeigt auf, dass sich die Ärzteschaft bloßgestellt und angegriffen fühlte. Warum haben sie es nicht einfach ausprobiert, fragt sich der rationale Leser. „Sich die Hände in der Chlorkalklösung zu waschen hätte bedeutet, die Theorie der Ansteckung durch Ärzte zu akzeptieren, ein Geständnis abzulegen, und konnte demnach auch so ausgelegt werden, dass sich das mit der bis dahin so hochgelobten gynäkologischen Professionalisierung rund um die Geburt doch anders verhalten hatte.“ (S. 168) Dabei war die Gynäkologie gerade dabei gewesen, als gleichgestellte medizinische Disziplin anerkannt zu werden, wurde sogar erst 1872 Teil des Pflichtstudiums. Durch Semmelweis’ Statistiken standen die Gynäkologen plötzlich im Ruf schlampig zu arbeiten. Kindbettfieber wurde zu einer durch Geburtshelfer verursachten Leicheninfektion. Die Hand des Arztes wurde zum Übertragungsfaktor. „Es war die Hand, die heilen als auch schaden konnte.“ (S.132)

 

Die Mortalitätsstatistiken waren ein Makel im Ansehen der Geburtsklinik und gleichzeitig auch ein Makel im Ansehen der österreichischen Verwaltung, die sich die Verbesserung der Gesundheit ihrer Bevölkerung zum Ziel gesetzt hatte. Semmelweis und seine Mitstreiter mussten sich gegen ihre eigene Zunft stellen, um eine Veränderung zu erwirken. Im März 1849 wurde Semmelweis’ Assistentenvertrag nicht mehr verlängert. Sein Nachfolger setzte die Chlorwaschungen sofort wieder ab.

 

Semmelweis kehrte nach Budapest zurück und arbeitete ab 1851 am St. Rochus-Krankenhaus. Auch hier führte er seine Chlorkalk-Waschungen ein und erzielte damit sogar noch bessere Erfolge als in Wien. 1855 wurde er zum Professor für Geburtshilfe an der Universität Pest ernannt. Dort waren die hygienischen Zustände allerdings katastrophal und die Todesraten entsprechend hoch. Unter anderem wurde das Bettzeug nur selten gewechselt und frisch aufgenommene Frauen in die Betten zuvor verstorbener Mütter gelegt. Da konnte auch das Waschen der Ärztehände mit Chlorkalklösung nicht viel ändern. „In den beiden ersten Lehrjahren an der Klinik von 1856 bis 1858 starben die Frauen in solcher Zahl, dass viele Fachkollegen dies zum Anlass nahmen, die alten Theorien wieder hervorzuholen und gegen Semmelweis zu argumentieren.“ (S.142) Es musste also einen weiteren Übertragungsmechanismus als die Ärztehände geben – die verschmutzt Bettwäsche. Doch die Krankenhausdirektion sperrte sich gegen seine Forderungen nach entsprechenden Verbesserungen und verwies auf das Kostenargument.

 

Semmelweis’ Kampf ging weiter. 1858 publizierte er sein Werk ‚Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers’ auf Ungarisch, drei Jahre später auch auf Deutsch. 1861 und 1862 schickte er offene Briefe an prominente Geburtshelfer in Wien und Würzburg, die seine Erkenntnisse ablehnten. Am 13. August 1865 starb Semmelweis unter nicht geklärten Umständen in einer Wiener Psychiatrie, wohin ihn seine Frau aufgrund erschreckender Wesensveränderungen ihres Mannes gebracht hatte. Im Jahr 1943 wurde die Geburtsklinik im 18. Wiener Gemeindebezirk gegründet und nach Ignaz Philipp Semmelweis benannt. Dorthin wurde auch die ehemalige zweite Abteilung aus dem Allgemeinen Krankenhaus, die sogenannte Hebammenabteilung, verlegt.

 

Durnová zitiert in ihrer Untersuchung den Schriftsteller Robert Anton Wilson, der den Begriff ‚Semmelweis-Reflex’ eingeführt hat. Laut Wikipedia handelt es sich dabei um „die Vorstellung ..., dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehne und den Urheber eher bekämpfe als unterstütze. ... In einigen Fällen hatten Innovationen in der Wissenschaft eher eine Bestrafung als eine entsprechende Honorierung zur Folge, weil jene Innovationen etablierten Paradigmen und Verhaltensmustern entgegenstanden.“

 

Mitunter beruht Abwehr aber auch auf emotionalem Selbstschutz. Auch dafür nennt Durnová ein Beispiel: Nicht nur Semmelweis litt darunter, unwissentlich zum Mörder geworden zu sein. Gustav Adolf Michaelis (1798-1848), Geburtshelfer an der Universitätsklinik in Kiel, beging Selbstmord, nachdem ihm seine Rolle beim Tod so vieler Frauen und auch seiner eigenen Kusine klar geworden war.

 

Anna Durnovás Zugang zum ‚Fall Semmelweis’ ist neu und faszinierend und ihre Folgerungen sind erschreckend einleuchtend – speziell bei ihrer mündlichen Präsentation. Ihr als Leser zu folgen ist hingegen mühsam: Man kommt einfach nicht vom Fleck. Häufige Wiederholungen mit anderen Worten und Verweise auf bereits Gesagtes bremsen die Lesegeschwindigkeit. Auch der tantenhafte Wir-Stil macht es nicht leicht: „Wie wir schon gehört haben“ (S.134), „Wir haben bewusst unterschiedliche Reaktionen zum Thema Handhygiene ausgewählt. Wir wollen damit auf ihre Bandbreite hinweisen.“ (S. 196). Man hätte sich ein gnädiges Lektorat gewünscht, das auch die schreckliche Verwendung des amerikanoiden Terminus ‚Administration’ ausgemerzt hätte, wo es sich doch einfach um die ‚Verwaltung’ handelt.

 

Anna Durnová (*1980) ist Hertha-Firnberg-Stelleninhaberin (Projektkoordinatorin) sowie Masterarbeitsbetreuerin am Institut für Politikwissenschaft an der Uni Wien und arbeitet an ihrem Habilitationsprojekt ‚Wahrheit verhandeln: Semmelweis, Diskurs über Handhygiene und Politik der Emotionen’.

 

Anna DURNOVÁ: In den Händen der Ärzte – Ignaz Philipp Semmelweis – Pionier der Hygiene

St. Pölten-Salzburg-Wien: Residenz 2015, 248 S., ISBN: 978-3701733538, € 22,90.

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2/2015, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.