Urbanität - Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern: M. Stercken, U. Schneider (Hg.)

Ein Stadtplan ist ein Stadtplan ist ein Stadtplan? Zumindest nicht in seinen Anfängen, wie Ferdinand Opll in seinem Beitrag Der Festungsbau als Initiator des Stadtplanes ausführt: „Das, was den modernen Menschen an Plänen und Karten interessiert, nämlich die präzise Befriedigung seines topographischen Interesses und die rasche Hilfe zur Orientierung waren Überlegungen und Beweggründe, die bei der frühen Entstehung von Plänen überhaupt nicht zum Tragen kamen.“ (S.155) Stattdessen zählt Opll 6 strategische Ziele von Stadtplänen auf: Versinnbildlichung stadtherrlichen, dann auch bürgerlichen Selbstverständnisses und Repräsentationsstrebens; historiographisches Zeugnis; Illustration und Ästhetik (zum An-die-Wand-hängen im Herrenzimmer); für militärische Planung; als Grundlage des administrativen Zugriffs (etwa zum Zwecke der Besteuerung); fürs Stadtmarketing (Tourismus). (S.135)

 

Was für Pläne und Karten gilt, gilt beispielsweise auch für Stadtbilder: Sie waren/sind Inszenierungen, die einem strategischen Ziel folgen. Das zeigt etwa Gerhard Fouquet in seinem Aufsatz Stadtbilder vom Spätmittelalter bis in die frühe Neuzeit: Es geht nicht um die Wirklichkeit sondern um die Idee der ‚schönen Stadt‘. (S.21f) „Zur ‚schönen Stadt‘ gehören dabei nicht nur die von Rat und Gemeinden finanzierten öffentlichen Gebäude, insbesondere Kirchen, Rathäuser, Brücken und Wehranlagen, sondern auch die Sicherstellung der Holz- und Lebensmittelversorgung, die Hygiene des Stadtraumes, die Feuersicherheit sowie die Wasserver- und Abwasserentsorgung.“ Als konkretes Beispiel für dieses strategische Denken, um nicht zu sagen ‚Wunschdenken’, führt er etwa die Ansicht der Kleinstadt Meßkirch im Schwarzwald von 1575 an: „Für den Kartenmaler bildeten die durchgehende Pflasterung aller Gassen und Plätze sowie die roten Ziegeldächer selbst der kleinen Fachwerkhäuser in den ärmeren Stadtvierteln […] wichtige Signaturen, um die Urbanität des Residenzstädtchens zu dokumentieren. Allerdings sind solche Stadtbilder methodisch mit vielen Vorbehalten zu lesen, sie sollen und wollen allenfalls Versatzstücke von Realität […] bieten.“ Die farblich auffallenden Ziegeldächer Meßkirchs dürften daher, so sie denn in der Realität der Zeit auch rot waren, wohl nur mit roter Farbe bemalte Schindeldächer aus Holz gewesen sein. (S.34f)

 

Der Band enthält vorwiegend die Ergebnisse einer Tagung am Institut für vergleichende Stadtgeschichte in Münster im März 2012. Sie beschäftigen sich nicht nur mit historischen Inszenierungen von Urbanität sondern gehen ganz allgemein der Frage nach, auf welche Weise, in welchen Kontexten und mit welcher Wirkmacht Texte, Bilder, Karten und Filme zeitspezifische Imaginationen und Konzepte des Urbanen erzeugen.

 

Sehr schön lassen sich die zeitspezifischen Imaginationen in Filmanalysen darlegen, etwa in Jörg Schweinitz’ Kapitel Maschinen, Rhythmen und Texturen, das vor allem das Filmschaffen der 1920er-Jahre in den Blick nimmt: „Kino und Film treten in einer Zeit auf den Plan, in der sich viele Großstädte durch ungeheures Wachstum, Hochindustrialisierung und neue Verkehrsmittel, Elektrifizierung und Modernisierung stürmisch zu modernen Metropolen entwickelt hatten.“ (S. 157f) Kein Wunder, dass im Kino - dem kulturellen Symbolort der neuen Urbanität - immer wieder visuelle Imaginationen der Großstadt inszeniert und ausgehandelt wurden, etwa mit dem Film Berlin - Die Sinfonie der Grossstadt von Walter Ruttmann.

 

Als zeitgenössisches Beispiel für die Darstellung/Inszenierung von Urbanität als Text untersucht Julika Griem die Berichterstattung über den jährlichen London-Marathon: Die Strecke muss für die Läufer durch Karten und Markierungen lesbar gemacht werden; konventionalisierte, international lesbare Codes und Zeichen werden dafür ebenso genützt wie der Wiedererkennungsfaktor charakteristischer Gebäude. (S.171) Stadt lässt sich gleichzeitig auch als Spektakel interpretieren: eine visuelle Inszenierung, in der Sehen und Gesehen Werden, Blickachsen und Schaueffekte eine prominente Rolle spielen. (S.175f) Im Fall des erwähnten Marathons betrifft ‚Spektakel‘ nicht nur die miterlebbaren Triumphe und Dramen der Teilnehmer, sondern auch die spektakulär inszenierte Stadtkulisse, die sich […] nicht allein Läufern und Publikum, sondern auch Journalisten, Fernsehzuschauern und Internet-Surfern von ihren besten Seiten zeigen soll. Und schliesslich versteht sich Stadt auch als Praxis: Hier zählt nicht allein das Ereignis laufender Akteure, sondern auch seine Vorbereitung und Nachwirkungen wie sichtbare Verkehrsumleitungen, Erste-Hilfe-Teams, Müllbeseitigung, Ordner etc., die überhaupt erst das städtische Szenario herstellen, in dem die gestählten und zu stählenden Körper der postindustriellen Gesellschaft sich zu einer Massendemonstration der Macht der Selbstdisziplinierung versammeln können. (S.172)

 

Nochmal anders nähert sich Frank Rexroth dem Thema Urbanität: Wissenschaft und Unmoral in den mittelalterlichen Vorstellungen von der Bildungsmetropole Paris. Er führt darin aus, wie sich das mittelalterliche Paris geradezu anbot, zur Parabel für moderne kulturelle Konstellationen zu werden, etwa für die Frage, wie Künstler und Intellektuelle inmitten der bürgerlichen Gesellschaft und zumal im amorphen Gruppengefüge der modernen Großstadt, eine antibürgerliche Gegenwelt etablieren konnten. (S. 65)

Die beiden Herausgeberinnen decken Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Vergleichende Landesgeschichte einerseits sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte andererseits ab. Entsprechend weit gefächert ist das Spektrum der Beiträge in diesem Buch: Geschichte, Kunstgeschichte, Romanistik, Anglistik und Medienwissenschaft. Sie alle versuchen, sich dem Begriff Urbanität auf ihre Art zu nähern, ein Begriff, mit dem im Verlaufe der Geschichte jeweils Verschiedenes, immer jedoch eine besondere Qualität des Lebens verbunden worden ist.

 

Martina STERCKEN, Ute SCHNEIDER (Hg.)
Urbanität - Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern (Städteforschung, Bd. 90), Köln: Böhlau 2016, 200 S., ISBN:  978-3412222727, € 40.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2/2017, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.