Peter Payer: Unterwegs in Wien – Kulturhistorische Streifzüge

Die aktuelle Diskussion um die ‚Neue Mariahilfer Strasse’ bringt die gleichgeartete Erregung anlässlich der Umwidmung der Kärntner Strasse (1974) in Erinnerung; manche werden auch noch die nötigen Umgewöhnungen durch die Opernpassage (eröffnet 1955) im Gedächtnis haben. ‚Alles schon da gewesen und positiv bewältigt’, denkt man sich beruhigt nach der Lektüre von Peter Payers Buch. Oder wie es Peter Patzak in seinem Vorwort formuliert: „Man kann in dem so wichtigen Geschichts-Zeit-Rad nachlesend, nachdenklich versinken.“


Payers ‚Kulturhistorische Streifzüge’ rufen im Leser die selbst erlebten Veränderungen der Stadt zurück, die uns heftig beschäftigt haben und trotzdem staunenswert schnell in Vergessenheit geraten sind. Andere sind irgendwie an unserer Aufmerksamkeit vorbei geglitten, beispielsweise die Umgestaltung und ‚Umnutzung’ der Babenbergerpassage am Ring (auch schon wieder seit mehr als zehn Jahren!).


Angesichts aktueller Befürchtungen über die Erwärmung unseres Klimas liest man mit Frösteln das Kapitel vom ‚Gletscher vor Wien’, Folge des Zufrierens der Donau: „Es ist ein aufregend schönes Schauspiel, dem Aufbau des Eisstoßes bei der Nußdorfer Schleuse zuschauen oder den bereits zu mächtiger Höhe gewachsenen Eisstoß bei der Reichsbrücke zu betrachten, der wie ein vielfach zerklüfteter, im hellen Sonnenschein wie Silber glänzender Panzer den mächtigen Strom in Fesseln geschlagen hält.“ (aus der ‚Neuen Freien Presse’, 1929)


Payer erzählt uns in knapp dreißig Essays, was wir über die eigene Stadt vergessen oder nie gewusst haben. Er war für uns vor der Schließung im ehemaligen Südbahnhof, lag in einem der hundert Gratis-Liegestühle, die es seit 2010 im Sigmund-Freud-Park vor der Votivkirche gibt, und stürzte sich – leibhaftig oder imaginär - jüngst mit den Extrem-Mountainbikern über den Nasenweg vom Leopoldsberg.


Quelle: Wikipedia

Und bei jedem seiner Einblicke und Ausblicke, an deren vorläufigem Ende die Gegenwart steht, erzählt er uns auch, wie es zu dem wurde, was es jetzt ist: Sei es die wechselvolle Geschichte des Nasenweges von der Einsiedelei des Fürsten de Ligne im 18. Jahrhundert über Verfall und nachfolgende Renaissance bis zum heute noch beliebten Ausflugsziel, bevölkert vom Mittelspecht und der Großen Küchenschelle; sei es die der öffentlichen Personenwaagen, die Ende der 1880er-Jahre begann und deren Laufbahn von der Faszination der Münzautomaten über die Veränderungen im Zugang zum eigenen Körper bis zum heutigen „kuriosen Wahrzeichen der Stadt“ reichte und reicht; oder sei es die Kunstfigur ‚Gigerl’, der Wiener Geck, dem sogar Märsche und Bühnenstücke gewidmet sind.

 

Payer hat den Blick für die Geschichten hinter den Banalitäten: Lichtreklamen, Geräuschschützer, der Wiener Wind, legendäre Polizisten, Rolltreppen, Maronibrater, Würstelstände, Keller und Bobby-Schokoriegel. Man folgt ihm angenehm und gern auf seinen kulturhistorischen Streifzügen.


Und dann gibt es da noch das Herz Zerreißende: Zwischen Kindheitserinnerungen, Wienerliedern und städtebaulichen Aspekten um den Donaukanal, den „Stadtspalt“, „die soziale Demarkationslinie“, erzählt Payer die tragische Geschichte des tollkühnen Artisten und Seiltänzers Josef Eisemann. Im Jahre 1949 spannt er ein 120 Meter langes Drahtseil vom DDSG-Gebäude über den Donaukanal und begeistert Tag für Tag das Wiener Publikum mit seinem abwechslungsreichen Programm: „Spaziergang im Polkaschritt“, „Abendessen am Seil“, „Kopfstand am Fahrrad“, „Todessprung“. Doch die Hauptattraktion ist die Überquerung zu zweit, bei der Eisenmann seine 16jährige Tochter Rosina auf den Schultern trägt. Eine Musikkapelle und ein Sprecher begleiten die Vorführungen, verstärkt durch eine Lautsprecheranlage. Bei der allerletzten Überquerung passiert das Unglück: Knapp vor dem Ziel verlieren die Artisten das Gleichgewicht, stürzen in die Tiefe und sterben noch im Krankenwagen. Das Gedenkkreuz an der Absturzstelle existiert nicht mehr, aber ihr Grab am Wiener Zentralfriedhof kann besucht werden.


Die einzelnen Kapitel sind im Verlauf mehrerer Jahre in verschiedenen Tageszeitungen erschienen und für das Buch überarbeitet und aktualisiert worden. Erwähnung verdienen auch die zahlreichen Fotos und Illustrationen: Alte Ansichtskarten, Karikaturen, Zeitungsinserate, Fotos aus älterer und neuerer Zeit, Plakate, Bucheinbände, Konzertprogramme und Filmszenen; sie lassen schon beim Durchblättern des Buches alte Erinnerungen auftauchen und Neugierde auf Noch-Nicht-Gewußtes entstehen.


Peter PAYER, Vorwort von Peter PATZAK: Unterwegs in Wien – Kulturhistorische Streifzüge, Czernin-Verlag, Wien 2013, 264 S., ca. 100 Abb.,  ISBN 978-3-7076-0466-5, € 23,00

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2014, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.