Von Bürgermeistern und Affären - Die Wiener Vorortegemeinden Ober und Unter St. Veit 1848-1891

Per 1. Jänner 1891 wurden der Großstadt Wien 40 Vorortegemeinden einverleibt, darunter Ober St. Veit und Unter St. Veit. Das vorliegende Buch stellt die Zeit von 1820 bis zu dieser Eingemeindung dar. Es schließt damit an das Werk ‚Aus der Vergangenheit von Ober St. Veit' an, das der Großvater des Autors, Dr. Josef Kraft, weiland Direktor des Nö. Landesarchivs/Ständisches Archiv, verfasst hatte und das von den mittelalterlichen Anfängen bis ca. 1820 reicht.

Die Ortschaft St. Veit erstreckte sich von den Abhängen des Lainzer Tierparks bis zum Wienfluss einerseits und zur heutigen Lainzerstrasse andererseits: Im Jahr 1780 gab es 127 Häuser mit rund 850 Bewohnern, die im wesentlichen von Viehzucht (Milchwirtschaft), Ackerbau und Weinbau lebten und der Grundobrigkeit des Bischofs von Wien unterstanden. Abseits des Ortszentrums entwickelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Siedlung, anfangs unter dem Namen ‚Neudörfel‘, bald aber als ‚Unter St. Veit‘. (S. 25) Sie wuchs schnell: Im Jahr 1810 umfasste sie bereits 33 Häuser, 1833 sogar schon über 90 Häuser mit 884 Bewohnern.

 

Der Unterschied zwischen ‚Ober’ und ‚Unter’ konnte größer nicht sein: Hier die wohlhabenden Alteingesessenen, dort Weber, Gerber, Färber, Pferdehaarwäscher etc., also Klein- und Kleinstgewerbetreibende, die für ihre Tätigkeit das Wasser des nahen Wienflusses benötigten. Dazu kamen entsprechende ‚Serviceberufe‘, um sie zu versorgen, etwa Schmiede, Greißler, Wagner, Schneider, Zimmerer und Wirte. (S. 27)

Die politischen Unruhen von 1848 spielten in die Geschichte der beiden Ortschaften trotz der Nähe zu Wien relativ wenig hinein. Lediglich in der Nacht vom 13. auf den 14. März entlud sich der Hass von erwerbslos gewordenen Arbeitern gegen Fabriken und Maschinen; gemeinsam mit kriminellem Pöbel zogen sie das Wiental stadtauswärts und plünderten und brannten nieder. Der Energie des entschlossenen und treu zum Kaiser stehenden Ortsrichters Michael Premreiner war es zu verdanken, „daß in Ober St. Veit keine ähnlichen Exzesse wie an anderen Orten vorgefallen sind.“ (S.34)

Einschneidend war hingegen die ‚Aufhebung des Unterthänigkeitsverbandes und Entlastung des bäuerlichen Besitzes‘ durch Kaiser Ferdinand im September 1848. Schritt für Schritt - teilweise äußerst schleppend - wurden Verwaltung und Administrativgerichtsbarkeit auf die neuerrichteten Bezirkshauptmannschaften übertragen. „Der kurioseste Infrastrukturmangel der Anfangszeit war […]
das Fehlen von Arrestzellen. […] So blieb nichts anderes übrig, als die Arrestanten im Privathaus des Bürgermeisters […] in den Keller zu sperren, wo sie der auswärts wohnende Gemeindewächter […] von Zeit zu Zeit zu beaufsichtigen hatte.“ (S. 57)

Im Zuge der allgemeinen Neuordnung wurden die räumlich getrennten und sozial höchst gegensätzlichen Orte ‚Ober‘ und ‚Unter’ zu einer einheitlichen politische Gemeinde innerhalb der Bezirkshauptmannschaft Hietzing zusammengefasst, wodurch der aufstrebende Ort Unter St. Veit „zu einem verwaltungsjuristischen Nichts degradiert“ wurde. (S. 45) St. Veit hatte zu dieser Zeit etwa 2300 Einwohner, von denen grob ein Zehntel an Wahlversammmlungen teilnehmen durfte. Der Rest waren Frauen, Kinder, Kranke, nicht eingebürgerte Bewohner und die durch den 1-Gulden-Zensus Ausgeschlossenen. (S. 47)

 

Im Frühjahr 1961 hatte „die Situation der Gemeinde St. Veit […] eine große Ähnlichkeit mit der Monarchie insgesamt: Der Verwaltungsapparat war im Zuge der neoabsolutistischen Reformen verbessert worden, dafür war man [aber] fast zahlungsunfähig.“ (S. 69) Nachdem wesentliche strukturelle Veränderungen zeit- und arbeitsintensiv abgearbeitet waren, kamen die alten Spannungen zwischen ‚Ober‘ und ‚Unter‘ wieder hoch: Unter St. Veit wollte weg. Im Oktober 1863 wurde vom Gemeindeausschuß der (Gesamt-) Gemeinde St. Veit die Trennung beschlossen, „weil die Verschiedenheit der gegenseitigen Bedürfnisse eine einheitliche Führung und Leitung … für immerwährend unmöglich machen wird und daß die Trennung ein tiefgefühltes und dringendes Bedürfnis sei.“ (S. 74f.) Wachmann, Nachtwächter, Schule, Feuerspritze u.a. waren ohnehin für jeden Ortsteil schon gesondert installiert; bei der Neubestellung des Totenbeschauarztes im Juni 1864 wurde auch eine Sprengelabgrenzung vorgenommen. (S. 75)

Weil aber die legistische Basis für Gemeindetrennungen erst geschaffen werden musste, verging viel Zeit: Inzwischen kamen neue Gemeindevertreter; einige von ihnen standen der Separation ablehnend gegenüber. Sie meinten: „Der Wunsch nach Trennung […] entstand in den Gehirnen einiger erhitzter Unzufriedener, welche durch ihr fortgesetztes Geschrei öffentliche Meinung machen, der besonnenere Theil ist diesem Wunsche gewiß fremd.“ (S. 80f.) Die Trennung wurde trotzdem beschlossen, „der Ausgleich des Vermögens und die Bestimmung des neuen Grenzverlaufes blieb [allerdings] einer späteren Regelung vorbehalten, was, wie sich zeigen sollte, ungeschickt war.“ (S. 81) „In der […] sehr gespannten Atmosphäre zwischen Ober- und Unter St. Veit wurden die nachträglich noch auftauchenden Fragen der Vermögensauseinandersetzung nicht sachlich-konstruktiv gelöst, sondern es gab, was schon nicht mehr verwunderlich ist, jeweils gleich neue Konflikte.“ (S. 167f.) Bis die Trennung 1870 wirksam wurde, dauerte es allerdings noch mehr als zwei Jahre, denn jeder der beiden Orte kämpfte um Steuer zahlende Betriebe. Harte Diskussionen gab es auch um 16 biedermeierliche Landhäuser an der Lainzerstrasse (heutige Nummern 57-83), die lukrativ an Sommerparteien vermietet wurden. Den Mietzinskreuzer wollte sich keiner der Orte entgehen lassen. (S. 104f.)

Unter und Ober St. Veit waren Teile eines recht uneinheitlichen Konglomerates von Vorortgemeinden. Abgesehen von unterschiedlicher Steuerpflicht zwischen Stadt und Vororten gab es auch keine einheitliche Wasserversorgung, Kanalisierung, Verkehrswesen, Wienflußregulierung etc., sodass es nach langen Diskussionen und trotz massiver Widerstände endlich zur Schaffung der Gesetzesgrundlagen für Groß-Wien kam: Am 19. Dezember 1890 wurden 40 Gemeinden, darunter Ober St. Veit und Unter St. Veit, mit der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien zu einer einzigen Ortsgemeinde vereinigt. (S. 279) Am 1.1. 1892 endete der provisorische Auslaufbetrieb in den Gemeindeämtern von Ober und Unter St. Veit und das magistratische Bezirksamt Hietzing nahm seine tatsächliche Tätigkeit auf. (S. 284)

Der Autor des vorliegenden Buches, Gebhard Klötzl, ist von Beruf Rechtsanwalt, aber seit seiner Jugend historisch ‚infiziert‘. Mit professioneller Genauigkeit und großer Liebe zur Sache hat er über viele Jahre ein umfangreiches Archiv der Bezirksgeschichte aufgebaut: Akten, Amtskalender, Anekdotenbücher, Erinnerungen, Fotos, Gesetzestexte, Grundbücher, Katasterblätter, Sitzungsprotokolle, Verordnungen, Zeitungsberichte etc. Mit Sachkunde und Humor breitet er das große und kleine Bezirksgeschehen vor unseren Augen aus: Neben historischen und politischen, strukturellen und personellen Entwicklungen auch Beleidigtheiten, Bierausschank, Ehrungen, Feuerwehrrevolten, Friedhofswesen, dubiose Grundstücksgeschäfte, Geschachere um die Endstelle der Dampftramway, Kirchenbau, Konflikte um Vorgärten, Lebensmittelpreise, Nebeneinkommen, Öffentliche Beschimpfungen, Raufhändel, Turbulenzen im Ortsschulrat, Veruntreuungen, Viehstand, Wahlkämpfe und so vieles mehr. Die ganze große weite Welt im Kleinen!

 

Sehr zu loben sind auch die mehr als 40 Seiten Anhang, die dem an der Bezirksgeschichte Interessierten eine Menge Sucharbeit ersparen: Liste der Bürgermeister, Gemeinderäte und Gemeindeausschüsse; Armenväter; Historische Standorte der öffentlichen Einrichtungen; Historische Strassennamen; Budgetentwicklung, sowie ein umfangreiches Personen-, Orts- und Sachregister. 64 Abbildungen machen die ausführlich geschilderten Entwicklungen ‚anschaulich‘.

 

Gebhard KLÖTZL: Von Bürgermeistern und Affären - Die Wiener Vorortegemeinden Ober und Unter St. Veit 1848-1891, Wien: homedia 2015, 334 Seiten, ISBN 978-3-200-04246-9, € 30.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 3/2016, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.