Als die Dummheit die Forschung erschlug. Die schwierige Erfolgsgeschichte der österreichischen Medizin.

Ob Frankgasse, Billrothstrasse, Holzknechtstrasse, Hebragasse, Meynertgasse, Schlagergasse oder Widerhofergasse – viele Wiener Gassen, Strassen und Plätze ehren berühmte Ärzte. Doch die meisten von uns können deren Namen nur grob zuordnen, für die näheren Umstände etwa der grundlegenden Neuorganisation des Allgemeinen Krankenhauses durch Johann Peter Frank (1745-1821) oder die Entwicklung neuartiger Operationstechniken durch Theodor Billroth (1829-1894) muss man schon tiefer im Gedächtnis graben – oder nachlesen.

 

Dafür kommt das vorliegende Buch sehr gelegen: Die Autorin nimmt uns mit auf Streifzüge durch alle medizinischen Fachgebiete, von Chirurgie bis Orthopädie, von der Ohren-Heilkunde bis zur Psychiatrie, von Narkosetechniken bis zu bildgebenden Diagnosemethoden. Wir erfahren die Herkunft der berühmten Forscher, ihre Ausbildung, ihren Werdegang – aber auch die Hindernisse, die Kämpfe und Rückschläge, die sie überwinden mussten. Denn die Entwicklung der österreichischen Medizin war steinig, Neid und Eifersucht, Arroganz und Intrigen, Egoismen und Ideologien, die Wissenschaftsbürokratie sowie blanke Dummheit blockierten Fortschritte. Auf Letztgenanntes bezieht sich der Titel des vorliegenden Buches: Mit dem Ausspruch „Die Dummheit hatte die freie Forschung erschlagen“ kommentierte der Wiener Arzt Friedrich Schürer von Waldheim (1866-1935) die ablehnende Haltung der Ärzteschaft gegen die Aufklärung des Kindbettfiebers durch Ignaz Semmelweis. Die lange Zeit bestehende Ignoranz gegenüber Semmelweis (1818-1865), dem „Retter der Mütter“, war kein Einzelfall und ist inzwischen geradezu ein klassisches Exempel für die Schwierigkeiten, neue Erkenntnisse durchzusetzen.

 

Um trotzdem erfolgreich zu sein, waren nicht nur Genialität, Erfindergeist, Phantasie, Wagemut und präzises Denken notwendig, sondern auch Hartnäckigkeit, Durchhaltevermögen, Überzeugungsfähigkeit und oft glückliche Zufälle, sonst hätte die Wiener Medizin nicht ihren guten Ruf errungen. Drei unserer Mediziner wurden sogar mit einem Nobelpreis ausgezeichnet, nämlich der HNO-Arzt Robert Bárány (1876-1936) für seine Arbeiten über die Physiologie und Pathologie des Vestibularapparates, Karl Landsteiner (1868-1943) für seine Entdeckung der Blutgruppen und der Psychiater Julius Wagner-Jauregg (1857-1940) für die Entdeckung der therapeutischen Bedeutung der Malariaimpfung zur Behandlung der progressiven Paralyse. Andere wurden (oft mehrfach) für den Nobelpreis vorgeschlagen, was die Bedeutung ihrer Arbeiten zeigt, auch wenn ihnen dann andere Forscher vorgezogen wurden. Dies betraf etwa den Pharmakologen Oleh Hornykiewicz (1926-2020), der trotz seiner bahnbrechenden Erkenntnisse über die Parkinsonerkrankung leer ausging, aber auch den Gynäkologen und Geburtshelfer Hermann Knaus (1892-1970), dessen Aufklärung des weiblichen Fruchtbarkeitszyklus für die damalige Zeit zu „unappetitlich“ war, den Sexualforscher Eugen Steinach (1861-1944, 9 Mal vorgeschlagen), den Pionier der hormonalen Empfängnisverhütung Ludwig Haberlandt (1885-1932) oder den Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939), der 32 Mal erfolglos vorgeschlagen wurde. Das kränkte ihn, obwohl er sich selbst wie folgt einschätzte: „Ich bin gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin […] ein Abenteurer mit der Neugierde, der Kühnheit und der Zähigkeit eines solchen.“ (S. 188) Doch auch die Ausgezeichneten wurden hier nicht unbedingt glücklich, wie das Beispiel des Nobelpreisträgers Rudolf Bárány zeigt: „Die Kollegen reagierten auf den jungen Nobelpreisträger mit Neid und Hass.“ Schließlich nahm er 1917 einen Ruf als Dozent für Otologie und Laryngologie nach Uppsala an und machte aus der dortigen Universitäts-Ohrenklinik ein weltweit wissenschaftlich anerkanntes Zentrum. (S. 228f.)

 

Obwohl die Universität Wien bereits im Jahre 1365 gegründet wurde und damit die älteste dauernd bestehende Universität im deutschsprachigen Raum ist, waren grundlegende strukturelle, organisatorische und philosophische Veränderungen notwendig, um eine zeitgemäße Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu ihrer Aufgabe zu machen: Medizin ist mehr als die Wissenschaft zur Gesunderhaltung, Heilung und Linderung von Krankheiten, sie hat gesellschaftspolitische Verantwortung. Die Autorin spannt den Bogen von den zukunftsweisenden Initiativen Kaiserin Maria Theresias bis zur Gegenwart, vom Einfluss der Mitglieder des Jesuitenordens bis zur psychosozialen Versorgung von morgen, von der mittelalterlichen Säftelehre (Blut, Schleim, schwarze und weiße Galle) bis zur Organpathologie. Was uns heute selbstverständlich ist, wie etwa das Abklopfen der Brust (Perkussion) als diagnostisches Hilfsmittel, musste sich ebenso durchsetzen wie der Gipsverband nach Knochenbrüchen oder die Blasensteinzertrümmerung.

 

Die Schilderungen bleiben aber nicht in der Vergangenheit stehen: Die Autorin geht auch auf die aktuellen Probleme des österreichischen Gesundheitswesens ein und erwähnt die Bemühungen der Gesundheits- und Sozialpolitiker der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, der Bevölkerung ein gesünderes und sozialeres Leben zu ermöglichen.

 

Der ausführliche Rundgang durch die Fort- und Rückschritte der einzelnen medizinischen Fachgebiete ist spannend zu lesen, weil wir die Akteure und ihre Gegenspieler, ihre Überzeugungen und ihre Rahmenbedingungen kennen lernen und verstehen können. Dennoch ist der Umfang übersichtlich geblieben. So beleben sich die Namen in unserem Gedächtnis mit Wissen, ohne dass wir uns geschulmeistert fühlen. Entsprechend landete das Buch innerhalb weniger Wochen auf der Bestseller-Liste. Die Autorin ist am Austrian Center for Digital Humanities und Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätig. Im Jahr 2022 wurde ihr Buch „Pandemie sei Dank! Was Seuchen in Österreich bewegten“ zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt.

 

Zum Schluss eine Anregung: Obwohl die historischen Beschreibungen von der Entwicklung neuer Untersuchungstechniken oder operativer Methoden den Begriff „Tierversuch“ verwenden, hat sich sein Image in neuerer Zeit so negativ verändert, dass die Leserin/der Leser innerlich zusammenzuckt. Tatsächlich geht es aber beispielsweise um die Simulation von Operationstechniken durch „klinische Studien am Tiermodell“, deren Erfahrungen und Ergebnisse die Anwendung am Menschen erst möglich machen. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung der Blutpumpen für den Langzeiteinsatz als Bypass im Jahr 1974. (S. 146f.)

 

 

Daniela Angetter-Pfeiffer: Als die Dummheit die Forschung erschlug. Die schwierige Erfolgsgeschichte der österreichischen Medizin. Vorwort von Univ.-Prof. Dr. Ernst Wolner.

Wien: Amalthea Signum, 2023, 260 Seiten, 31 Abbildungen, ISBN 978-3-99050-241-9, € 28.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2/2023, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.