Ein „ganz normaler“ Soldat? Die Feldpostbriefe eines Wiener Unteroffiziers. Von Polen bis Stalingrad.

Der niederösterreichische Schlossergeselle Karl Josef Wintereder (1916-1943) war einer von ca. 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs. Er machte während seines dreieinhalbjährigen Kriegsdienstes in der Deutschen Wehrmacht insgesamt drei Feldzüge mit: Polen 1939, Frankreich 1940 und Sowjetunion 1941-1943. Der letzte Einsatzort des Küchenunteroffiziers war Stalingrad, wo er vermutlich in den letzten Tagen der Einkesselung umkam.

 

Rund 100 Briefe von und an ihn während seiner Zeit als Soldat sowie sein Tagebuch von 1938 bis 1940 sind erhalten geblieben und wurden von der Historikerin Martina Fuchs und dem Historiker, Journalisten und Publizisten Christoph Rella ausgewertet, teilweise durch Zusatzinformationen ergänzt.

„Kriegsbriefe […] erbringen keine (neuen) Erkenntnisse zur Kriegs- bzw. Militärgeschichte, erlauben uns aber einzigartige Einblicke in Denken, Wünsche, Gefühlswelt, Erleben und Verarbeiten des Krieges durch den sprichwörtlichen „einfachen“ Soldaten“, begründen die AutorInnen ihre Arbeit. (S26) Als weiteren möglichen Nutzen des vorliegenden Bandes erwähnen sie die potentielle Verwendung als Forschungssubstrat, etwa für das „noch relativ junge Feld der Männlichkeitsforschung“. (S27)

 

Wer speziell an niederösterreichischer Geschichte interessiert ist, oder sich mit einzelnen Schauplätzen beschäftigt, an denen Wintereder stationiert war, oder wer die Beobachtungen und Erlebnisse einfacher Soldaten kennenlernen will, wird die Briefe mit Aufmerksamkeit und Wissenszuwachs lesen: „[Sie] waren nicht gewohnt, ihre Gedanken zu reflektieren, geschweige denn, diese zu Papier zu bringen. Nun war dies ihre einzige Möglichkeit, die Verbindung zu Familie und Freuden aufrechtzuerhalten. Wie haben sie diese genützt, worüber schreiben sie, was wird verschwiegen?“ (S27) Wintereders Briefe heben sich insofern ab, als er als begeisterter Buchleser über einen größeren Wortschatz als die meisten seiner Kollegen verfügt.

 

„Seit den 1980er Jahren ist Feldpost verstärkt ins Blickfeld der wissenschaftlichen Forschung getreten. Historiker, Ethnologen, Psychologen, Linguisten und Medienwissenschaftler lesen Feldpostbriefe als Quelle, aus der sich Erlebnis- und Blickweisen rekonstruieren lassen. Mentalitäten, Alltagserfahrungen und individuelle Strategien zur Bewältigung des Kriegserlebens werden in ihnen sichtbar.“ (https://www.briefsammlung.de/feldpost-zweiter-weltkrieg) Institutionen, Archive, Museen und Wissenschafter haben entsprechende Auswertungen zugänglich gemacht, auch Journalisten und Schriftsteller haben sich mit Feldpostbriefen befasst. Dazu zählen etwa biografisch aufgearbeitete und kommentierte Konvolute und Überlieferungen, die dem Leser die Befassung mit und das Verstehen von Kriegs-Situationen ermöglichen.

Zu erwähnen ist etwa der jüngst vorgelegte Band „Aenne und ihre Brüder“, in dem der deutsche Journalist und Musiker Reinhold Beckmann (geb. 1956) anhand von Feldpostbriefen die Geschichte von Franz, Hans, Alfons und Willi, den vier Brüdern seiner Mutter, erzählt, die allesamt im Krieg geblieben sind. Dazu der Autor: „Wenn man die Briefe meiner Onkel liest, dann spürt man zwischen ihren Zeilen ihre tiefe Einsamkeit, ihre Sehnsucht, wieder nach Hause zu kommen, und auch ihre Verzweiflung. Die besten Jahre des Lebens werden ihnen gerade genommen.“ Im Vergleich dazu sind Karl Wintereders Briefe positiver/optimistischer. Er träumt von Ausflügen auf die Berge, hofft – immer und immer wieder – auf ein schnelles Ende des Kriegseinsatzes, fühlt sich inmitten der Kollegen meist geborgen und vertraut, und nimmt lebhaften Anteil am Alltag seiner Eltern und seiner Schwestern, an dem er möglichst bald wieder teilhaben will.

 

Feldpostbriefe einfacher Soldaten sind trivial und langweilig, wenn man selbst keine emotionale Bindung zum Verfasser hat oder sie in einen Forschungskontext setzen kann. Wintereders Briefe machen da keine Ausnahme, ihre Lektüre erfordert Ausdauer. Dennoch ist sie bereichernd, weil die Schilderungen von Warten, Frieren, Dunkelheit und mitunter Kälte, Verletzungen und Versetzungen, von Ängsten und  Hoffnungen einen Kriegsalltag plastisch machen, dessen man sich bei historischen Zusammenfassungen und propagandistischen Schilderungen nicht bewusst wird.

 

Martina Fuchs, Christoph Rella: Ein „ganz normaler" Soldat?: Die Feldpostbriefe eines Wiener Unteroffiziers. Von Polen bis Stalingrad,  KRAL, 160 Seiten, 978-3991031109, € 26,90

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 4/2023, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.