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Aufbau und Bearbeitung von Archiven und Sammlungen
Die Wiener in China - Fluchtpunkt Shanghai. Little Vienna in Shanghai.
Vor dem Lesen kommt das (Bilder-)Schauen - kein Wunder bei einem Buch, das als Begleitband zu einer Ausstellung erschienen ist. Ein reicher Fundus an Fotos, Briefen, Tagebüchern, Zeitungsausrissen, Zeichnungen, Erinnerungsstücken und Dokumenten gibt den LeserInnen schon beim ersten Durchblättern einen lebendigen Eindruck vom Glück und Unglück, im gleichermaßen „ersehnten und gefürchteten Bestimmungsort Shanghai“ angekommen zu sein (S. 210). Dankenswerter Weise haben sich die AutorInnen neben dem Zusammentragen des Bildmateriales die Mühe ausführlicher erklärender Bildunterschriften gemacht.
Rund 6.000 österreichische Jüdinnen und Juden fanden nach ihrer Flucht vor den Nazis Aufnahme in Shanghai, einem der wenigen Orte, für den kein Einreisevisum nötig war. Für die Ausreise aus Wien waren allerdings dennoch Visa hilfreich, vor allem, um die in Dachau oder Buchenwald inhaftierten Männer freizubekommen. Von 1938 bis Anfang 1940 half ihnen der chinesische Generalkonsul Dr. Feng Shan Ho. Er gab gegen den Willen der chinesischen Regierung tausende dieser befreienden Visa aus. (S. 9) Seiner Rolle ist daher auch ein Kapitel dieses Buches gewidmet. Doch trotz seiner Hilfe war es oft fast unmöglich, Ausreisemöglichkeiten für weitere Familienangehörige zu finden. „Das ging nahezu über die Fähigkeiten eines Menschen und über die Fähigkeiten meiner Mutter […] Als wir am Dampfer waren, dachte sie, sie würde überhaupt nie mehr lachen können.“ (Heinz Grünberg, S. 184)
Der dreiwöchige Seeweg führte von Italien durch den Suez-Kanal und das Arabische Meer nach Singapur und von dort in das Südchinesische Meer. Als die Durchfahrt durch den Suez-Kanal kriegsbedingt nicht mehr möglich war, musste die Route um Afrika genommen werden, was die Fahrt um eine Woche verlängerte. Durch den Kriegseintritt Italiens auf Seite Deutschlands am 10. Juni 1940 wurde die Flucht durch das Mittelmeer unmöglich und es blieb nur der Landweg, der allerdings eine Reihe von Durchfahrtsgenehmigungen erforderte: Von Berlin nach Moskau, weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn ostwärts bis in die Mandschurei. Mit der Ostchinesischen Eisenbahn ging es dann von Tschita nach Harbin und weiter nach Dalian, von dort schließlich per Schiff nach Shanghai (S. 21-22).
Shanghai war nicht nur wegen der „freien“ Einreisemöglichkeit eine Zufluchtsstätte für viele jüdische Flüchtlinge aus Europa sondern auch wegen seiner großen jüdischen Gemeinde, die sich vor allem durch Zuwanderung aus dem Nahen Osten entwickelt hatte, die so genannten „Baghdadi Jews“. Nach einer für viele EmigrantInnen mühsamen Reise und einer desillusionierenden Ankunft in Shanghai konnte mit Hilfe der Baghdadi Jews doch ein einigermaßen normales Leben aufgebaut werden: Zumindest behelfsmäßige Schulen und Kindergärten, Ausbildungskurse für Jugendliche, eine Arbeitsvermittlungsstelle, Sprachkurse für Englisch, Seminare, um die chinesische Lebensweise besser zu verstehen, Pfadfindergruppen …
Nach und nach entstand sogar ein kleines Wien - „Little Vienna“: Restaurants, Kaffeehäuser, Würstelstände und Heurigenlokale, Zeitungsgründungen, Musik- und Unterhaltungsprogramme, Tanz und künstlerische Aufführungen gaben dem Leben Farbe und Hoffnung.
Dann kam das Jahr 1941: Shanghai wurde von Japan eingenommen, das mit dem Deutschen Reich verbündet war. Im heruntergekommenen Stadtviertel Hongkew entstand ein Ghetto für die jüdischen Emigranten, in dem sie dem meist brutalen japanischen Verwalter Kanoh Ghoya ausgeliefert waren. Erst zwischen 1947 und 1949 konnten die meisten Flüchtlinge Shanghai verlassen, meist Richtung USA, Kanada, Australien oder Israel, denn in ihrer alten Heimat Wien waren sie wenig willkommen, obwohl sie ihre Staatsbürgerschaft nicht freiwillig aufgegeben hatten. Wenn sie es dennoch nach Wien schafften, waren ihre Wohnungen zerstört oder gestohlen; wer nicht bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf fand, musste in Massenquartieren und Obdachlosenheimen wohnen, manche sogar bis zum Jahr 1953 (S. 127).
Siebzehn Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern haben an dem Band mitgeschrieben, nähern sich über unterschiedliche Zugänge, schildern eigene Familienerfahrungen oder präsentieren ihre Forschungsergebnisse: Exilforschung, fotografische Dokumentation, Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Musikforschung, Antisemitismusforschung, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Dokumentarfilmer. Die Unterschiedlichkeit der Blickwinkel und des jeweils zusammengetragenen Wissens formt sich zu einem runden Ganzen. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Geschichten der 22 Familien, auf die genauer eingegangen wird. Für die einen waren es „Jahre des Unheils“ (Franz und Elisabeth Modern), andere kamen im Exil finanziell gut zurecht (Fritz und Ingeborg Hungerleider). Einige erinnern sich an Shanghai als „bunt und sehr lebendig“ (Ruth Hirsch), das Leben anderer war von schweren Krankheiten gezeichnet, ausgelöst durch schwierige Lebens- und Arbeitsumstände (Familie Grünberg).
Wer keine Möglichkeit hat/te, die Ausstellung im Wiener Jüdischen Museum zu besuchen (bis 27. Juni 2021), wird durch den umfangreichen Begleitband dennoch ein sehr facettenreiches Bild vom Leben der Wiener Jüdinnen und Juden im „Fluchtpunkt Shanghai“ erhalten.
Danielle Spera, Daniela Pscheiden (Hg.): Die Wiener in China - Fluchtpunkt Shanghai. Little Vienna in Shanghai. Deutsch, Englisch. Wien: Amalthea Signum, 264 Seiten, 978-3-99050-192-4, € 29,90.
Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2/2021, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.
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