„ … vor Schand und Noth gerettet“?! – Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt.

Es handelt sich um den Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, die von Mai 2021 bis März 2022 im Bezirksmuseum Josefstadt in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum zu sehen war und mehr als 2.200 BesucherInnen aus aller Welt anzog. Sie thematisierte das Gebärhaus und Findelhaus anhand von rund 100 historischen Objekten, dreidimensionalen Grafiken und Reproduktionen aus mehr als 15 wissenschaftlichen Institutionen.

 

Aufgrund seiner reichen und gut ausgewählten Bebilderung vermittelt der Band auch ohne Ausstellungsbesuch einen tiefen Einblick in die Situation lediger Mütter und ihrer Kinder in früheren Zeiten. Das führt uns die soziale, medizinische und ökonomische Situation von Frauen vor Augen, die ungewollt schwanger wurden, und hilft uns in unserer mitteleuropäischen Lebensrealität mit sicheren, effektiven und verfügbaren Verhütungsmitteln, der Möglichkeit der anonymen Geburt, Adoptionsmöglichkeiten sowie dem Fehlen jeglicher Diskriminierung unehelich Geborener bei der Beurteilung historischer Narrative. Denn wir vergessen zu leicht, was eine uneheliche Geburt auch für das Kind bedeutete. Nicht nur die Frau galt als „verkommen“, auch das Kind wurde als „minderwertig“ angesehen: Unehelich Geborene und Findelkinder waren beispielsweise bis ins 19. Jahrhundert von vielen Handwerksberufen ausgeschlossen. Um als Lehrling angenommen zu werden, musste die eheliche Geburt durch entsprechende Urkunden oder Zeugnisse nachgewiesen werden. Selbst wenn die Eltern später noch heirateten, musste oft die Obrigkeit angerufen werden, damit ein Lehrling von der Zunft angenommen wurde. Die eheliche Geburt musste noch ein zweites Mal nachgewiesen werden, nämlich wenn der Geselle um Aufnahme als Meister ansuchte. Auch die Ehefrau eines Meisters musste von ehelicher Geburt sein und durfte ihrerseits keine unehelichen Kinder haben. „Noch im 19. Jahrhundert sieht man scharf darauf, dass die Frau untadelig von Geburt und Wandel ist.“

 

„Kinder kosten Geld“ – dieser Stoßseufzer mancher Eltern kommt uns bekannt vor. Was heute noch immer Gültigkeit hat, war unter finanziell sehr eingeschränkten Verhältnissen des 18. und 19. Jahrhunderts eine Katastrophe. Dabei ging es nicht nur um den Aufwand für Nahrung, Kleidung und Wohnraum für das Kind, sondern auch um die zeitliche Inanspruchnahme der Mutter, wodurch ihre Möglichkeiten reduziert waren, zum Familieneinkommen beizutragen. War die Frau hingegen alleinstehend, bedeutete ein (uneheliches) Kind in vielen Fällen sogar den Verlust ihres Arbeitsplatzes, damit verbunden der Wohnmöglichkeit und Verköstigung, also ihrer Existenz. Zwischen 1784 und 1910 wurden rund 750.000 Kinder im Wiener Gebärhaus geboren, in der Pfarre Alser Vorstadt getauft, mit rund 10 Tagen im Wiener Findelhaus abgegeben und von dort an Pflegefrauen weitervermittelt, bei denen sie überlebten – oder auch nicht. Die Säuglingssterblichkeit lag bis ins 20. Jahrhundert mit rund 25 Prozent allgemein sehr hoch, war aber trotz Kontrolle durch Pfarrer und Ortsobrigkeit unter den Findelkindern noch bedeutend höher.

 

Im Jahr 1910 wurde das Findelhaus an der Alser Strasse abgerissen und von einem Landeszentralkinderheim abgelöst, doch bliebt die Situation der Mütter und ihrer Kinder weiterhin unbefriedigend. Die bisher vollzogene Trennung von Mutter und Kind wurde zunehmend kritisiert und nach neuen Wegen gesucht. Da eine uneheliche Geburt gesellschaftlich nicht mehr ganz so katastrophal schien wie zuvor, dachte man nun weniger an die schutzwürdige Mutter als an das Kind und seine Rechte. Der 1. Weltkrieg ließ die Zahl der Pflegekinder emporschnellen, wodurch die städtische Kinderübernahmsstelle völlig überfordert war. Max Winter (1870-1937), Sozialreporter und 1919 Vizebürgermeister von Wien, thematisierte in der Wiener Arbeiterzeitung mehrfach die dort herrschenden Missstände (S 56). Weiter geht es durch Themen wie Wiener Jugendamt, Jugendfürsorge im Roten Wien, Verwahrlosung, Schwererziehbarkeit, Heimunterbringung, Problemkinder… Auch die spezielle Situation in Austrofaschismus und Nationalsozialismus wird beleuchtet (S66-67).

 

Anna Jungmayr, Curatorial Fellow am Wien Museum, bringt das tragische Schicksal von Ignaz Semmelweis, dem Entdecker des Kindbettfiebers, in Erinnerung (S74-75), Jakob Lehne, Historiker und Kurator am Josephinum, beschreibt die Entwicklung der Geburtshilfe um 1800, weitere Kapitel widmen sich u.a. dem Hebammenwesen, Einstellungen gegenüber Sexualitäten, mehr oder minder erfolgreichen Verhütungsversuchen und der seit 1970 gesetzlich vorgeschriebenen Sexualerziehung. Zu erwähnen sind auch die ausführlichen Lebensgeschichten Betroffener sowie die hilfreichen Praxistipps zur Erforschung ledig geborener Vorfahren. Nicht nach jedermanns Geschmack, aber wohl eine Reverenz an den Zeitgeist, ist schließlich die Kunstintervention „Changing Cabinet“.

 

Das Ausstellungskonzept basierte auf den wissenschaftlichen Forschungsergebnissen von Verena Pawlowsky; Margarete Hubinger trug Aspekte der Medizingeschichte bei und Leopold Strenn solche der Ahnenforschung. Weitere (freie) MitarbeiterInnen beschäftigten sich mit Transkriptionen, Recherchen und der Suche nach aussagekräftigen Leihgaben, unter anderem aus dem Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch in Wien.

 

Für ein „kleines“ Bezirksmuseum waren Ausstellung und Begleitband eine bewundernswerte Leistung!

 

 

Bezirksmuseum Josefstadt und Anna Jungmayr (Hrsg.): „ … vor Schand und Noth gerettet“?! – Findelhaus, Gebäranstalt und die Matriken der Alser Vorstadt. Wien: Eigenverlag des Bezirksmuseums Josefstadt, 2021, 238 Seiten, 229 Abbildungen, ISBN 978-3-200-08093-5, € 25.

 

Meine Buchbesprechung erschien in den 'Wiener Geschichtsblättern', 2/2023, hrgg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien.